Der 2001 von deutschen IT-Experten geprägte Begriff Industrie 4.0 macht Furore. Die Terminologie lehnt sich an Versionsnummern von Software-Produkten und an das Web 2.0 an. Während weitgehend Einigkeit besteht, dass die (erste) industrielle Revolution durch Einsatz von Dampfmaschinen und die zweite durch Elektromotoren entstanden ist, differieren bereits die Auffassungen über eine dritte industrielle Revolution; sie wird meist durch vielfältige Formen des Computereinsatzes charakterisiert, aber auch durch eine Hinwendung zu stärker ökologisch orientierten Produktionsverfahren.

Vor der Etablierung des Begriffs Industrie 4.0 waren die Bezeichnungen Industrie 1.0, Industrie 2.0 oder Industrie 3.0 völlig unüblich. Eine Google-Suche zeigt, dass der Begriff Industrie 4.0 unverhältnismäßig häufiger verwendet wird als seine Vorläufer, was Verdacht auf ein Hype-Phänomen auslöst. Diese Sichtweise wird dadurch bestärkt, dass 4.0 in zahlreichen Kontexten verwendet wird, in denen Ausdrücke 1.0, 2.0 oder 3.0 nicht existieren.

Mangelnde Präzision

Angesichts des Wildwuchses an Publikationen in diesem Umfeld (allein 2015 beschäftigten sich mehr als 17.000 Veröffentlichungen mit diesem Thema) darf es nicht verwundern, wenn kein Konsens über die Inhalte dieses Konzepts besteht. Häufig wird als Merkmal der Industrie 4.0 gesehen, dass durch das Internet der Dinge die Möglichkeit einer flächendeckenden digitalen Vernetzung von Produktionsanlagen und Werkstücken gegeben ist. Die Maschinen könnten dadurch miteinander kommunizieren ("Social Machines"). Die in Realzeit verfügbaren Daten könnten die autonomen "Dinge" zu selbstständigen Entscheidungen nutzen, was künstliche Intelligenz erfordert. Die Maschinen könnten ihre Erfahrungen und Entscheidungen weitergeben und damit bei anderen Maschinen Lerneffekte auslösen.

Manche der unter Industrie 4.0 beschriebenen Visionen erscheinen für absehbare Zeit als Science-Fiction. Dies gilt z. B. dann, wenn formuliert wird, dass Produktionsanlagen mit sich selbst, mit anderen Maschinen, aber auch mit Lieferanten, Kunden und Konsumenten kommunizieren würden. Andere Charakterisierungen erinnern an den sprichwörtlichen Wein in neuen Schläuchen: So lebt die in den 1980er-Jahren vieldiskutierte vollautomatisierte "Factory of the Future" als "Smart Factory" wieder auf; das etwa gleichzeitig propagierte Computer-Integrated Manufacturing (CIM) wurde bald als gescheitert angesehen, während neuerdings gefragt wird, worin sich CIM 2.0 und Industrie 4.0 unterscheiden.

Die Einschätzung der Methoden der künstlichen Intelligenz hat mehrmals zwischen Euphorie und Verächtlichmachung gewechselt. Praxisberichte wirken gegenüber den hochgestochenen Visionen erfrischend bescheiden: So werden die Konsolidierung von 27 ERP-Systemen in ein einziges oder der Aufbau eines einheitlichen Datenmanagementsystems als Industrie-4.0-Aktivitäten angesehen.

Aus all dem folgt, dass Industrie 4.0 im Verdacht steht, ein eher unseriöser Hype-Begriff zu sein. Hype-Zyklen werden im IT-Umfeld vor allem von der Beratungsfirma Gartner diagnostiziert. Danach würde der rasante technische Fortschritt im Umfeld von Computersystemen zu allzu hochgestochenen Erwartungen führen, denen eine Phase der Enttäuschung folgte, in der die zuvor hochgejubelten Technologien verächtlich gemacht werden; möglicherweise pendelte sich später ein Zustand ein, in dem die Technologie wirtschaftlich sinnvoll genutzt werden kann. Dieter Zencke, früheres Vorstandsmitglied der SAP AG, sieht Hypes durch das Zusammenspiel von Marketingabteilungen der Anbieter mit nach Sensationsmeldungen heischenden Medien entstehen.

Dies führt zur Frage, wem ein allfälliger Hype um die Industrie 4.0 nützt. Zu den Gewinnern zählen vor allem Anbieter, die bestehende oder marginal weiterentwickelte Produkte als wesentliche Bausteine der Industrie 4.0 vermarkten, und Beratungshäuser, die ihre Erkenntnisse und angeblichen Erfahrungen im Industrie-4.0-Umfeld weitergeben wollen. Dazu gehören Messen, Seminaranbieter und Verlage, die entsprechende Angebote platzieren. Und dazu zählen auch Hochschulen, die Projekte unter dem Industrie-4.0-Label einfacher und großzügiger finanziert erhalten.

Der Hype und die Folgen

Als Fazit bleibt: Die Computertechnologie hat die Gegebenheiten in vielen Branchen völlig umgestaltet. Jedes Unternehmen ist gut beraten, diese Entwicklungen zu verfolgen und auf ihre Anwendbarkeit zu prüfen. Die Entscheidungsträger sollten sich aber vom medialen Dauerbeschuss nicht zu unerreichbaren oder unwirtschaftlichen Schwerpunktsetzungen verleiten lassen. Wenn der Hype um die Industrie 4.0 dazu führt, dass Unternehmen wegen beschränkter Forschungsressourcen andere Innovationsprojekte abbrechen oder hintanstellen, so können daraus einzel- und gesamtwirtschaftlich unerwünschte Entwicklungen resultieren. (Gerhard F. Knolmayer, 1.8.2016)