Wien – Angesichts der Aufhebung der Bundespräsidenten-Stichwahl fordert SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim die Einführung der Dissenting Opinion am Verfassungsgerichtshof. Dieser hat es bisher abgelehnt, von einem Erkenntnis abweichende Stellungnahmen einzelner Richter zu veröffentlichen. Die Entscheidung über die Hofburg-Wahl sieht Jarolim "nicht als Sternstunde des Gerichtshofes".

Sie habe zu Recht Besorgnis und Nachdenklichkeit in informierten Kreisen ausgelöst. Gerade in diesem Fall wäre es wichtig zu wissen, ob alle VfGH-Mitglieder einig waren oder ob sich – wie von vielen angenommen – einige gegen die Aufhebung stellten. Zumal der VfGH die angeordnete Wiederholung mit Rechtswidrigkeiten – auch wenn diese das Ergebnis nicht verändert haben – begründete.

Die angeführten Rechtswidrigkeiten (wie etwa Nichtteilnahme von Beisitzern an der Auszählung) könnten auch absichtlich von Parteienvertretern in den Wahlbehörden herbeigeführt werden, um eine Aufhebung zu bewirken, merkte Jarolim an.

Jarolim: "Gründlich aufräumen"

Die Weigerung des VfGH, das Abstimmungsergebnis oder gar eine ausführliche vom Erkenntnis abweichende Stellungnahme einzelner zuzulassen, ist für Jarolim ein "Relikt aus der Vergangenheit", mit dem man endlich gründlich aufräumen müsse. Die Chance dafür sieht er beim anstehenden Wechsel an der Spitze des VfGH (Präsident Gerhart Holzinger muss nächstes Jahr 70-jährig in Pension gehen).

Mit der Ablehnung der Dissenting Opinion habe der Gerichtshof bisher wohl versucht, "seine Bedeutsamkeit damit zu schützen, dass man nach außen vermittelt, es würde jede Entscheidung von allen gemeinsam getragen". Ein solcher "selbst umgehängter Maulkorb" sei in der heutigen Zeit allerdings völlig verfehlt, sprach Jarolim von einer "Biedermeier-Einstellung, die sich überlebt hat".

Gegenmeinungen sollten veröffentlicht werden

In der modernen Gesellschaft sollte auch im höchsten verfassungsrechtlichen Gremium die sonst selbstverständliche Meinungsfreiheit gelten. Überstimmten Senatsmitgliedern müsse gestattet werden, eine Gegenmeinung öffentlich darzustellen – freilich entsprechend wissenschaftlich begründet. Nur das Abstimmungsergebnis zu verraten, wäre für Jarolim ein Schritt in die richtige Richtung, aber nicht ausreichend.

Denn es gelte, Partizipation durch transparente Entscheidungen zu ermöglichen. Nur wenn wissenschaftlich argumentierte Gegenmeinungen veröffentlicht werden, sei ein fundierter demokratiepolitischer Diskurs möglich – in diesem Fall über eine allenfalls nötige Wahlrechtsreform. Der VfGH sollte seine Funktion doch auch darin sehen, mit der Darstellung der unterschiedlichen Aspekte zur Weiterentwicklung des Rechts beizutragen, merkte der SPÖ-Justizsprecher an.

Auch Böhmdorfer plädierte für Dissenting Opinion

Über die Einführung des "Sondervotums" beim VfGH wird seit langem diskutiert. Jarolim hat sich – wie die SPÖ insgesamt – immer dafür eingesetzt. Aber der VfGH lehnte es immer ab – und es gab nie eine parlamentarische Mehrheit: Die ÖVP war immer dagegen, die FPÖ früher ebenfalls, sie schwenkte nach dem Ortstafel-Erkenntnis aus dem Jahr 2000 aber um.

Auch Dieter Böhmdorfer plädierte in seiner Amtszeit als Justizminister für die Dissenting Opinion. Jetzt hat er die Anfechtung der Bundespräsidentenwahl verfasst, die dem FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer eine zweite Chance auf den Einzug in die Hofburg bescherte. (APA, 31.7.2016)