Jede Gesellschaft hat ihren Bodensatz. Selbst in demokratischen Gesellschaften, die auf den Grundsätzen Freiheit, Gleichheit und Mitbestimmung gegründet sind, gibt es eine Gruppe, die de facto von diesen Werten ausgeschlossen ist. Gleichwohl erfüllt diese Gruppe für die demokratische Gesellschaft eine Vielzahl von wichtigen Aufgaben: Die offensichtliche ist natürlich das Zur-Verfügung-Stellen von billigen Arbeitskräften.

Aber auch für die Unterschicht des Landes erfüllt die "untere Kaste", wie sie der US-Historiker Peter Gran bezeichnete – ein Segment also, aus dem der Einzelne selbst durch positive Eigenleistungen kaum ausbrechen kann -, paradoxerweise eine wesentliche Rolle: Aus der Sicht der Benachteiligten der eigenen Bevölkerung gibt es jemanden, "dem es noch schlechter geht als mir". Durch diese "negative Identifikation" stabilisiert die untere Kaste das Los der Unterschicht und macht es erträglicher. Letztendlich lenkt die untere Kaste auch von existierenden Problemen ab, wie etwa Ungleichheit, Gewalt, Ungerechtigkeit – sie wirkt somit systemstabilisierend, weil grundsätzliche Probleme nicht angesprochen werden müssen bzw. auf die untere Kaste umgeleitet werden können.

Die Mitglieder der unteren Kaste stammen in der Regel aus nichtdemokratischen Ländern der Peripherie, die durch Migration und Flucht in die Demokratie gelangen, und sind vor allem durch ihre Andersartigkeit im Aussehen und Verhalten gekennzeichnet. Nun ist es natürlich in demokratischen Gesellschaften nicht möglich, offiziell Mitglieder der unteren Kaste vom Übertritt in die Gesellschaft abzuhalten, und einigen wenigen gelingt es auch. Dieser Übertritt, die vielzitierte Integration, verlangt jedoch nichts anderes als eine Identitätstransformation, die zumeist geheimnisvoll abzulaufen scheint: Die Kriterien für diese Verwandlung sind oft nicht so klar, wie man vorgibt, und damit ist es auch nicht leicht zu ergründen, warum sie in einigen Fällen funktioniert und in anderen nicht. Selbst das Thema der Sprache als wesentliches Kriterium scheint hier nicht immer zu funktionieren. Sprechen Türken so viel schlechter Deutsch als Ungarn?

Die Legitimation hinter diesem Konzept ist der Gedanke, dass demokratische Gesellschaften immer auch "auserwählte" Gruppen sind, die Individuen aus nichtdemokratischen Gesellschaften überlegen sind: Sie sind auserwählt, weil sie freie Individuen sind. Sie sind erfolgreicher als andere Gesellschaften, weil sie die vom Kapitalismus geschätzte Kreativität und Eigenverantwortung unter Beweis stellen, die auf dieser Freiheit beruhen. Attribute, die dem Mitglied der unteren Kaste grundsätzlich abgesprochen werden. Dieses "Auserwähltsein" wird in einigen Demokratien durch die Rolle der überlegenen eigenen Kultur abgesichert, in anderen Ländern durch die sakrosankte Wissenschaft, die der unteren Kaste ihre Andersartigkeit nachweisen kann.

Wenn nun die vollständige Integration der unteren Kaste nicht angedacht bzw. von einigen sogar als grundsätzlich unmöglich erachtet wird, bleibt der Politik vor allem das Instrument der Regulierung, um deren Verhältnis zur demokratischen Gesellschaft zu steuern. Hierbei sind paradoxerweise linke Parteien oft anfälliger als konservative: Linke Parteien müssen immer darauf achten, ihre Kernwähler der Unterschicht durch eine Auflösung der Trennlinien zur unteren Kaste nicht in Bedrängnis zu bringen und sie ihrer negativen Identifikation zu berauben bzw. ihre schwache ökonomische Basis zu gefährden.

Geschichtlich einprägsam waren hier die Erfahrungen der britischen Labour-Partei in den 1960er- und 1970er-Jahren: Als im Zuge des Zusammenbruchs des Kolonialreiches britische Staatsbürger aus Ländern wie Uganda nach Britannien fliehen wollten, erzeugten auch Gewerkschaften einen Druck auf die zunächst widerständige Partei, sodass diese und auch die Folgeregierung schrittweise die Gesetze änderten und die Einreise für britische Staatsbürger nur mehr erlaubte, wenn Arbeitsplätze vorhanden bzw. bereits Verwandte im Lande waren (Commonwealth Immigration Act).

Die Lehren aus dieser Episode sind den meisten Politikern völlig klar: Der österreichische Außenminister – im Nebenberuf auch für Integration zuständig – agiert nun wie andere Politiker auch als eine Art Sicherheitspolitiker, der sich der Regulierung verschrieben hat: Er weiß, dass die Integration der unteren Kaste ja nie funktionieren bzw. überhaupt nur in Maßen überhaupt angestrebt werden kann und darf.

Ablenkungsmanöver

Auch dem burgenländischen Landeshauptmann darf man diese Erkenntnis unterstellen: Das politische Thema der Regulierung der unteren Kaste lenkt vortrefflich davon ab, dass die Wirtschaft dieses durch Großgrundbesitz und Mangel an wirtschaftlichen Zentren gekennzeichneten Landes trotz Milliardenzuschüssen aus Brüssel nicht in der Lage ist, genügend gutbezahlte Jobs zu generieren. Diese Verhaltensweise und Einstellung sind jenen der FPÖ sehr ähnlich: Obschon diese Partei stets ihre Ausgrenzung seitens der traditionellen politischen Klasse beklagt hat, ist die Regulierung und Erhaltung der unteren Kaste ihr Kernthema. Selten hört man von dieser Partei hingegen, dass es ja burgenländische Unternehmer sind, die billige ausländische Arbeitskräfte einstellen. Was sollte es auch bringen? Die Unternehmen würden argumentieren, dass es die schlechte Verfassung der Wirtschaft ist, die sie dazu zwingt.

Man sollte sich zudem im Klaren sein, dass diese Mechanismen auch der unteren Kaste ersichtlich sind. Sie werden keine gleichberechtigten Staatsbürger werden, werden verstehen, dass dieses Streben eigentlich aussichtslos ist, und müssen mit den psychologischen und ökonomischen Konsequenzen leben lernen. Wenn sie – wie bei den Demonstrationen anlässlich des jüngsten Militärputsches in der Türkei – die türkische Fahne schwenkten, ist dies genau dieser Einsicht zu verdanken. Welche Fahne hätten sie sonst verwenden sollen? Hätten sie die österreichische Flagge verwendet, wäre dies eine Übertretung der Trennlinie gewesen. (Ayad Al-Ani, 29.7.2016)