"Der Vaterlose fühlt sich immer im Blickpunkt, im Guten wie im Bösen": Peter Handke.

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Peter Handke, "Vor der Baumschattenwand nachts". € 28,– / 424 Seiten. Jung und Jung, Salzburg 2016

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Vor der Baumschattenwand nachts setzt die Folge der seit Jahrzehnten erscheinenden Publikationen aus den Notizbüchern Peter Handkes fort. Diese Bände – 1977 erschien als erster Das Gewicht der Welt – kamen später in immer größeren Abständen heraus, und von den Jahren zwischen 1990 und 2006 gibt es bis jetzt noch keinen für die Publikation bearbeiteten Band.

Die Notizbuch-Originale selbst, handschriftlich, mit Bleistift, Filzstift oder Kugelschreiber in verschiedenen Farben geschrieben, mit Zeichnungen versehen – und gezeichnet von den Spuren von Wind und Wetter und von "des Wildes Tritt" -, sind für mich die schönsten und kostbarsten Aufzeichnungsbände des zwanzigsten Jahrhunderts, auch wegen der ungezähmten wilden Schönheit der Schriftbilder. Zum ersten Mal sind nun in einen publizierten Aufzeichnungsband endlich mehrere Zeichnungen aus den Notizbüchern aufgenommen worden.

Ich darf mich zu den Lesern der nunmehr sechs publizierten Bände zählen und habe diese langen Unterbrechungen der Publikation immer bedauert, weil ich die konkreten, das Denken und Wahrnehmen erweiternden chronikalisch-philosophischen Formen schätze, die aus Beobachtungen des alltäglichen Lebens und der Natur hervorgehen und eine Form der Geschichtsschreibung im ältesten Sinn repräsentieren, notwendig wie eh und je.

"'Sei Vater!' – 'Aber wie?' – 'Sei ein Mann!' – 'Wenn ich bloß wüsste, was das ist, ein Mann!'"

Welche Seite auch immer man in Vor der Baumschattenwand nachts aufschlägt, die Frageform ist allein schon grafisch an den Fragezeichen abzulesen. Aber auch Rufzeichen oder die vielen Gedankenstriche sind vom Geist oder vom "Spiel" bzw. von der "Kunst des Fragens" affiziert, sie sind im besten Sinne Gedankenstriche, weil sie das Innehalten bezeichnen, mit welchem ein meist gegenläufiger Gedanke einsetzt.

Der Frage-Rhythmus weist auf das zuinnerst Philosophische der Texte, sodass sich der Autor in einer heiteren Wendung fragt, ob er nicht von jeher ein "verkappter Philosoph" sei: "Immer noch ist für mich alles Frage. Also bleibe ich verkappter Philosoph?"

Friedrich Hölderlins Wort vom Geist, der sich nur "rhythmisch ausdrücken könne", ist dem verwandt, was Handke den "Umkehrwind" nennt, der in den ständigen Wendungen und Sprüngen, im Drehen und Umkehren der Wörter und Sätze zu spüren ist und der im Landstraßen-Schauspiel eine faszinierende komödiantisch-theatralische Choreografie ergibt.

Dieser Fragewind erfasst einen vom ersten Satz der Aufzeichnungen an, noch bevor man ein Fragezeichen gesehen hat: "Der Vaterlose fühlt sich immer im Blickpunkt, im Guten wie im Bösen." Ist das nicht so, seit wir aus dem Paradies vertrieben worden sind? Die Vaterlosigkeit wird im ganzen Werk Peter Handkes immer wieder neu gewendet, und die gelassenste Gegenwendung gegen das Drama der Vaterlosigkeit spricht im Landstraßen-Schauspiel ausgerechnet eine Figur aus, die ICH-DER-DRAMATISCHE heißt: "Na ja, ein Vater hätte, bei mir zumindest, sicher Schlimmeres angerichtet. Gelobt sei die Vaterlosigkeit!"

Die andere Zeit

"Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015" nennt Handke sein neuestes Buch im Untertitel, es enthält also, was dem Autor zugeflogen ist oder ihn angeflogen hat und aufzeichnenswert erschien, was ihm zum "Zeichen" wurde, im Alltag, zu Hause, im Garten, in den Vorortzügen, auf den Straßen, beim Gehen und beim Lesen in den letzten neun Jahren, oder was aus den Träumen in den Tag herübergeweht ist.

Im Vergleich zu den früheren Aufzeichnungsbänden sind die Orte und die Datierungen noch durchgehender weggelassen, die biografischen Kontexte kaum zu erkennen. Die Zeit ist ein unbestimmtes Heute, aber in allem, was hier aufgezeichnet ist, steckt die Gegenzeit, das Bewusstsein jener anderen Zeit, die jeder Mensch in sich trägt, verschüttet oft und unterdrückt und nur in den (Tag-)Träumen lebendig. Diese Zeit wird in den nun erschienenen Aufzeichnungen auch unter dem Akut des Zuendegehens erlebt: "Immer wieder: Kein Zeit (mehr) zu haben – die Zeit nicht zu haben; der Drache im Herzen – das Herz als Drache", und umso wichtiger wird jetzt das Sich-frei-Spielen der Wörter und Sätze von jeher.

Die Textstücke, meist acht bis zehn pro Seite, weisen eine ungewöhnliche Themen- und Formenvielfalt auf. Man findet zum Beispiel mehrere als "11. Gebote" bezeichnete Sätze; oder "Und"-Sätze, die das epische Nebeneinander und Immer-Weiter vorführen; die "Jetzt"-Sätze sind oft Evokationen des mystischen Augenblicks im Alltag; nicht zu vergessen die Sätze, die mit "Verb für" beginnen, als sollte dem Tätigkeits- oder Tunwort und der Sprache insgesamt ein bewussterer Platz im "Handwerk des Lebens" (Cesare Pavese) zugesprochen werden.

An die hundert oder mehr solcher sprachlicher Vorschläge nennen Verben für ein vorbildliches Tun und Machen: "Verb für den Schöpfer (Schöpferischen): 'gib ein Beispiel'." In Handkes anderen Werken begegnet man sogar Dingen, Tieren, Landschaften, Brücken und Wegen, Bäumen und Blumen, und nicht zuletzt und immer wieder, dem Schnee und dem Schneien, die etwas befreiend Schöpferisches in uns erwecken und unsere Existenz aufhellen, weil wir – in den Begriffen des Spinoza – doch selber Teil der ausgedehnten, denkenden Substanz sind und so an der absoluten Substanz, die Gott ist, teilhaben.

Einer der "Verb für"-Sätze in Vor der Baumschattenwand nachts lautet: "Verb für den Schnee im Zugfenster: 'entgrenzt'"; ein Schnee-Gebet, das über das irdische Leben hinausreicht, heißt: "An meine Toten: 'Der ewige Schnee leuchte ihnen!' ('Immer noch Sturm')", und, um einen letzten Schnee-Text zu zitieren, der ins Irdisch-Alltägliche der Küche hineinführt: "'Willst du im Sommer den Winter sehen?' fragte ein Vater sein Kind. Und er öffnete den Tiefkühler voll mit Schneebällen."

"Zuversicht?: Ich habe meine zwanzig Jahre alten Schuhe zur Reparatur gegeben und werde sie übermorgen abholen."

Vor der Baumschattenwand nachts gehört zu Handkes Büchern der letzten Jahre, in denen der Tod, mehr als davor, sich in das Denken und in das Weltgefühl hineindrängt. Aus Der Große Fall wird in dem neuen Aufzeichnungsband der Satz zitiert: "An seinem letzten Tag auf Erden wachsen dem Helden der Geschichte die Haare und Fingernägel schneller und schneller". Ein anderes Notat hält die überfallartige Einsicht fest, plötzlich "keine Zeit mehr" zu haben: "Da ist das 'plötzlich' am Platz – ein tiefinneres 'plötzlich'; ein Fall aus dem Gefährt namens 'Zeit', ein Wegfall der lieben Gefährtin 'Zeit'."

Wie liebevoll hat Handke über die Zeit als menschlichen Raum geschrieben, über die Formen von Zeit, die "Zeitschwellen" oder die einstehende Zeit des Hier und Jetzt als Gegenzeit zum Imperativ des Zeit ist Geld. In Vor der Baumschattenwand nachts wird, intensiver als zuvor, noch einmal und noch immer die Vielfalt der anderen, lebendig machenden Erfahrungen der Zeit beschworen – "Und wieder blühen die Wildkirschen und es wogt in ihnen die andere Zeit (1. Frühlingstag, Picardie)".

So viele Zeitsphären werden in den Aufzeichnungen in Erinnerung gerufen, die Jahreszeiten, die Zeiten des Kirchenjahres, das Ostern der Passionsgeschichte und der Auferstehung, für Handke ein nie vergehendes gewaltiges Ereignis, die Familienzeit, die Zeit der Kinder, die Zeit des Gedenkens und der Erinnerung, die Zeit der Liebe, die Zeit des Lesens, die Zeit der Zitronenfalter und der sich verändernden Farben und der Jahreszeitenluft. Allesamt tragen sie bei zum großen Wundern über das Hiersein: "'Er wunderte sich, und wunderte sich' (Sonnenaufgang)", und dieses "Sich-Wundern über das Leben" führt auch hier, mit der kleinen Zweideutigkeit des Wortes "einst", zu Spinoza: "'Die Vernunft des Menschen besteht nicht darin, über den Tod nachzudenken, sondern über das Leben': so ungefähr einst Spinoza."

Geblieben, und nur noch stärker geworden angesichts der Baumschattenwand nachts ist die Bereitschaft, die Wahrheit über das unaufhaltsame Zeitvergehen und die sich verkürzende Lebenszeit ins Lachen kippen zu lassen. In diesem Sinne heißt einer der "Verb"-Sätze: "Verb zur Wahrheit, die geformte: Sie 'macht Lachen' – so wahr ist sie. Siehe Kafka." Fast geheim wird in einem anderen Notat die Wahrheit, dass es zu bröckeln beginnt, aus dem Fall der Magnolienblüten herausgehört: "Verb zum Blütenfall der Magnolien: die Blüten 'bröckeln'." Und einer dieser wahren Sätze, die zum Lachen sind, ist ein Jahreszeiten-Satz. Er lautet: "Es herbstelt. – Es herbstelt das ganze Jahr." (Hans Höller, Album, 30.7.2016)