Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: family lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

Foto: family lab

Frage

Unsere Tochter ist zwei Jahre alt, sehr eigensinnig und liebevoll im Umgang mit anderen Kindern und Erwachsenen. Mein Mann und ich arbeiten in sehr anspruchsvollen Berufen mit relativ wenig freier Zeit unter der Woche. Er kann sie nie aus dem Kindergarten abholen und ist oft nur am Abend oder Wochenende da. Er ist ruhig und liebt seine Tochter sehr, aber sie will meist nur zu mir.

Das ist für mich auf Dauer eher anstrengend als schmeichelhaft. Ich wünsche mir, dass sie sich weniger an mich klammert und mit ihm genauso gern ist wie mit mir. Wenn ich einmal eine Nacht nicht zu Hause bin, kommen die beiden gut zurecht. Trotzdem, sobald ich da bin, ist der Papa uninteressant. Manchmal bitte ich sie, sich doch einmal von ihm herumtragen zu lassen, aber sie will nicht. Das erschöpft mich. Mein Mann sagt, ich muss sie einfach einmal schreien lassen, wenn sie zu ihm auf den Arm oder mit ihm schlafen gehen soll. Das fällt mir schwer.

Ich denke viel darüber nach, warum sie ihren Papa verschmäht und ohne mich nichts möglich ist. Bin ich eine Mama, die nicht loslassen kann? Mir fällt auch auf, dass unsere Tochter sehr positiv auf andere "aktive" Väter reagiert. Die geht sofort zu ihnen auf den Arm und fühlt sich sichtlich wohl und kuschelt mit ihnen. Sogar wenn ihr eigener Papa dabei ist. Ich wünsche mir, dass sie zu ihrem Papa ein genauso inniges Verhältnis gewinnt wie zu mir.

Antwort

Das Verhalten Ihrer Tochter ist, einfach gesagt, eine logische Konsequenz der von ihrem Vater gewählten Prioritäten. Obwohl es niemals seine Absicht war, der Beziehung zu seinem Kind eine geringere Priorität als anderen Dinge einzuräumen, empfindet Ihre Tochter das so. Ich bin mir nicht einmal wirklich sicher, ob sie es überhaupt persönlich nimmt.

Der Weg zu einer besseren Balance für Ihre ganze Familie ist zum Teil, was Ihr Mann vorschlägt: Es ist wichtig für Sie, dass Sie lernen, die Frustration Ihrer Tochter besser auszuhalten. Für Ihren Mann gilt, dass er von sich aus entscheiden sollte, mit seiner Tochter um seiner selbst willen Zeit zu verbringen – und nicht, um Sie als Mutter zu entlasten.

Sobald das geschieht, wird Ihre Tochter innerhalb weniger Monate lernen, ihrem Vater und seinen Absichten zu vertrauen. Ich glaube übrigens nicht, dass Sie eine dieser Mütter sind, die ihr Kind von sich abhängig macht. Wie die meisten Eltern fällt es Ihnen einfach schwer, Ihre Tochter weinen und toben zu hören. Das ist völlig okay, solange Sie die Frustration als notwendigen Teil jedes Lernprozesses wertzuschätzen lernen. (Jesper Juul, 31.7.2016)