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Andrzej Stasiuk (er raucht angeblich nicht mehr) gedenkt der Umbrüche in Ostpolen – und entwirft darüber hinaus ein faszinierendes Bild der Welt hinter Warschau.


Foto: Friedrich/SZ-Photo/picturedesk.com

Salzburg – Vor kaum 50 Jahren schliefen die Dorfbewohner der Niederen Beskiden Wand an Wand mit dem blökenden Vieh. Das Leben der ostpolnischen Bauern gehorchte dem Wechsel der Jahreszeiten. An die Stelle der früheren Armut traten aber die eher zaghaft eingelösten Versprechen des Kommunismus. In den Kaufläden der "Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften" gab es zwei Mal in der Woche kiloschwere Brotlaibe und dünnes Bier. Besser als nichts, wie Andrzej Stasiuk in seinem neuen Roman Der Osten nicht unzufrieden vermerkt.

Für Autor Stasiuk (55), Bewohner eines ostpolnischen Dorfes, enthält das Leben in den Mangelzonen des Sozialismus den Schlüssel zum Verständnis unserer Gegenwart. Seine Literatur ist ein Zeugnis der Unruhe. Hunderttausende Polen konnten zudem in den Jahren nach 1945 ein Lied singen von den Mühen der Umsiedlung.

Einst brachen die Hirtenvölker der Illyrer, Thraker und Daker aus dem Dinarischen Gebirge auf. Sie zogen mit ihren Hammeln und Rindern nordwärts, in das Gebiet der Karpaten, und bevölkerten die Landschaften Wolhyniens und Rutheniens. Etwas von der Unrast dieser Nomaden ist auch auf Stasiuk übergegangen. In Der Osten memoriert er die Geschichte seiner Angehörigen. An den Ufern des grünen Flusses Bug erlebten sie den Ansturm der deutschen Okkupanten, ebenso die Befreiung durch sowjetische Marinesoldaten 1944. Deren Leibchen waren gestreift wie die Blusen jener Matrosen, die kaum 40 Jahre früher die Russische Revolution vom Zaun gebrochen hatten.

Andrzej Stasiuk ist jedoch kein Chronist. Eher schon blendet er die großen Volksbewegungen des 20. Jahrhunderts kunstvoll ineinander. Er memoriert die Umwandlung argloser Bauern in standesbewusste Fabrikarbeiter. Man schreibt die 1970er-Jahre. Die Warschauer Proletarier stürmen nach Auszahlung ihrer staatlich garantierten Löhne die Kioske und plündern die Wodkavorräte. Man sieht sie hinter den Gleisanlagen ihren Rausch ausschlafen, spätabends aufgeweckt von der durchdringenden Nässe des Grases. Mitten unter ihnen, betört von einer Übermacht an Formen, Farben und Gerüchen, der heranwachsende Andrzej.

Polnische Litanei

Stasiuks Literatur ähnelt seit ihren Anfängen (Galizische Geschichten, Die Mauern von Hebron) einer Litanei. Ihre Stärke liegt nicht so sehr im Erfinden fiktionaler Zusammenhänge. Eher schon gleicht sie einer Spurensuche. Gleichzeitig setzt Stasiuk seinen ganzen Ehrgeiz daran, Relikte der verschiedenen Kulturstufen aufzuheben, sie zum Verschwinden zu bringen.

Polens gegenwärtig vielleicht wichtigster Autor ist Reiseliterat. In Der Osten tauscht er den Staub des heimischen Kulturbodens gegen die unbezwingbaren Weiten von Asiens Wüsten. Stasiuks Globetrotterei besitzt religiös-zwanghafte Züge. Wie im Taumel stürzt er sich via Flugzeug nach Sibirien. Er reist anschließend mit dem Rucksack nach Nordchina, in die Mongolei. Überall das gleiche Bild: tausende Kilometer weit nichts als Gras und Steppe. Der ewige Wind leckt die Knochen verendeter Kamele sauber. Wie eine zimperliche Schöne weicht die Horizontlinie vor dem Spurensucher zurück.

Stasiuk selbst empfindet seine Reise in den "Ewigen Osten" als befremdlichen Trip in die Zukunft. Hinter der chinesischen Grenze schießen Millionenstädte in die Höhe. In anonymen Fabriken entsteht der postkapitalistische Plunder, der auf unsichtbare Weise den Weg in die polnischen Einkaufsmärkte findet: Spielzeug aus Plastik, Artikel ohne Gebrauchswert. Als ob die "Rückständigkeit" der nichtwestlichen Welt dazu auserkoren wäre, das Leid der Moderne an uns Europäern zu rächen.

Stasiuks Ein- und Ansichten entspringen einer Widerstandshaltung: gegen den Westen, den postmodernen Konsum. Er lebt und schreibt in strenger Opposition gegen die verordneten Begriffe von Wohlfahrt und Fortschritt. Stasiuk sucht in der endlosen Steppe nach den Gerüchen "östlicher Verlassenheit". Er lobt die "Annullierung der Materie", die ein Werk der Elemente ist. Er spricht auf nicht immer nachvollziehbare Weise über das Erlebnis einer Leere, die ihm wie "die totale Antiware" vorkommt.

Los des Einzelgängers

Umso befriedigter kann man der heutigen Auszeichnung Stasiuks durch Kulturminister Thomas Drozda in Salzburg entgegensehen. Der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur 2016 wird einem Störenfried und Einzelgänger zuteil. Stasiuk selbst verbringt einen Großteil seiner Nichtreisezeit im Kindheitsdorf, unweit des Bugs.

Stasiuks Rekonstruktion eines "ewigen Ostens" steckt voller Widersprüche. Sie erinnert an sein Bekenntnis zum "Intermarium", einer Art von osteuropäischem Kulturraum. Ohne Schengen, konzipiert als nostalgische, von Unkraut überwucherte Ewigkeitszone, vage verortet zwischen Ostsee und Schwarzmeer. Man muss Stasiuks Vision nicht teilen, um von der Lektüre dieser Dichtung dennoch zu profitieren. (Ronald Pohl, 29.7.2016)