Partner, die aufeinander angewiesen sind: der türkische Präsident Tayyip Erdoğan und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

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Eine türkischer Kampfjet landet auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik.

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STANDARD: Die türkische Armee ist mit 680.000 Angehörigen die zweitgrößte innerhalb der Nato und von hoher strategischer Bedeutung. Kann sich die Nato nach dem Putsch und den Umstrukturierungen noch auf die Türkei verlassen?

Henning Riecke: Ich denke, ja. Die Sorge der anderen Nato-Staaten ist weniger eine um die Bereitschaft zur militärischen Solidarität, sondern eine um die Rechtsstaatlichkeit der Türkei. Aber ein Credo in der Nato ist auch, dass die Politik das Militär kontrolliert und nicht umgekehrt. Deswegen ist die Erleichterung sehr groß, dass der Putsch nicht zu einer Militärjunta geführt hat. Der Personalaustausch, der jetzt stattfindet, irritiert die Nato aber in dem Sinne, dass die Streitkräfte in der Türkei nun mit dem massiven politischen Druck zu kämpfen haben. Die Frage des rechtsstaatlichen Wertekanons, den die Türkei ja offensichtlich nicht mehr mitträgt, wird vielleicht später noch einmal wichtig werden.

STANDARD: Der Ausschluss der Türkei, eine Art "Türxit", ist also keine Option?

Riecke: Ein Ausschluss der Türkei wegen des besorgniserregenden Kurses Erdoğans ist kein Thema. In der Nato geht es in erster Linie um den Beitrag, den ein Land zur Bündnisverteidigung leisten kann. Die Türkei ist nicht das erste Nato-Land, das von der Demokratie als Staatsform abweicht. Portugal war eine Diktatur, als es Gründungsmitglied der Nato wurde. Die Türkei wurde zwischenzeitlich von einer Militärjunta regiert, auch Griechenland. Was der Putsch und die türkischen Reaktionen darauf für den Zusammenhalt in der Nato bedeuten, ist zwar auf den Fluren der Nato ein Thema. Politisch aktiv gegen eine solche Regierung vorzugehen ist aber keine Option. Die Nato ist eine Verteidigungsorganisation, die militärische Integration betreibt, und keine politische Oberaufsicht.

STANDARD: Man kann also sicherheitspolitisch auf die Türkei nicht verzichten. Welche Rolle spielt die Türkei strategisch?

Riecke: Die Türkei ist in verschiedenen konfliktreichen Regionen sehr einflussreich, im Nahen Osten, am Kaukasus, in Südosteuropa. Sie hat eine zentrale strategische Position am Schwarzen Meer – ein Bereich, in dem sich Russland auch stark engagiert. Und außerdem ist die Türkei sowohl strategisch als auch logistisch unverzichtbar in der Auseinandersetzung mit dem Assad-Regime und dem Islamischen Staat in Syrien. Ein Bereich, in dem die Nato nur am Rande engagiert ist, aber es ist nicht auszuschließen, dass sie dort irgendwann eine stärkere Rolle spielt. Außerdem sind wichtige Bestandteile des Raketenschilds der Nato zum Schutz Europas in der Türkei (Radaranlage, Anm.). Die Luftraumüberwachung im Grenzgebiet der Türkei mit Syrien und dem Irak kann wichtige Lagebilder liefern.

STANDARD: Unter welchen Voraussetzungen würde ein Land als Nato-Partner untragbar?

Riecke: Wenn ein Land komplett und dauerhaft aus dem Kreis der Demokratien ausschert und aktiv gegen die sicherheitspolitischen Interessen anderer Verbündeter vorgeht. Darum geht es aber in dieser Lage nicht.

STANDARD: Es gibt Befürchtungen, dass sich die Türkei künftig strategisch und militärisch Russland zuwenden könnte. Halten Sie das für möglich?

Riecke: Der westliche Sicherheitsbund ist für die Türkei die erste Wahl. Wenn Erdoğan Signale an Russland sendet, ist das taktischer Natur. Die Türkei und Russland stehen am Schwarzen Meer, am Kaukasus und in Syrien in starker Konkurrenz. In der letzten Zeit ist ihr Verhältnis immer schlechter geworden. Der Höhepunkt war da wohl der Abschuss des russischen Kampfjets über türkischem Luftraum. Eine Annäherung wäre also erst einmal sogar wünschenswert.

STANDARD: Ex-Nato-Oberkommandierender James Stavridis plädiert dafür, sich der Kooperation Ankaras zu versichern, indem man die türkischen Streitkräfte im Kampf gegen radikale Kurdengruppen unterstützt. Hat er für diese Idee innerhalb der Nato Anhänger?

Riecke: Schwer vorstellbar, dass die Nato das tut – dafür gibt es keinen Konsens im Bündnis.

STANDARD: Es ist ein offenes Geheimnis, dass auf dem von der Nato für Einsätze in Syrien und dem Nordirak genutzten türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik zumindest 50 Atombomben lagern. Gab oder gibt es Überlegungen, diese sicherheitshalber abzuziehen?

Riecke: Ich weiß keine Antwort auf diese Frage, kann mir aber vorstellen, dass man den Putsch schon allein deshalb sehr besorgt beobachtet hat. Der Abzug einer solchen Batterie aus einem Land ist aber ein hochpolitischer Akt und ein Misstrauensvotum erster Güte. Das hängt damit zusammen, dass Sie durch die Stationierung solcher Waffen auch Nichtnuklearstaaten an der atomaren Abschreckung beteiligen und sich so solidarisch zeigen. Auch in Deutschland sind ja beispielsweise US-Atombomben stationiert. Ein Abzug wäre eine politische Eskalation der höchsten Stufe.

STANDARD: Auf alle Fälle verfolgen die Nato-Partnerländer die Entwicklungen in der Türkei argwöhnisch. Kann sich denn die Türkei noch auf die Nato-Partner verlassen?

Riecke: Weit in die Zukunft geschaut und als potenzielles Szenario zu sehen: Wenn sich die Türkei in Konflikte in ihrer Nachbarschaft einmischt – wie es zum Beispiel in Syrien lange der Fall war – und damit Gegenmaßnahmen der gegnerischen Seite hervorruft, wird es vermutlich nicht ganz so leicht sein, einen Konsens zu erreichen, sollte die Türkei den Bündnisfall nach Artikel 5 ausrufen. Da würde es aber sicher auch darauf ankommen, bis zu welchem Grad die Türkei selbst als Brandstifter aktiv dazu beigetragen hat, dass sie angegriffen wird. Aber kein Nato-Land will sich leichtfertig in einen Konflikt hineinziehen lassen.

STANDARD: Wie sind Erdoğans Pläne zu bewerten, die Geheimdienste und das Militär direkt unter seine Kontrolle zu stellen?

Riecke: Erdoğan fürchtet die Opposition aus den Reihen des Militärs, auch hat ihn offenbar der Chef des Geheimdiensts nicht über die ihm bekannten Putschpläne informiert. Der Schritt kann also größere Stabilität schaffen. Man muss aufmerksam beobachten, ob dies dann eine politische Kontrolle des Militärs darstellt – in die auch das Parlament einbezogen sein müsste. Als Gewaltinstrument in der Hand eines autoritären Führers könnte das auch ein Schritt in Richtung Diktatur sein. (Manuela Honsig-Erlenburg, 29.7.2016)