Saint-Étienne-du-Rouvray: Eine französische Dorfkirche ist zum Schauplatz des Terrorismus des "Islamischen Staats" geworden. Im Nahen Osten sind Christen und ihre Gotteshäuser seit Jahren vermehrt islamistischen Attacken ausgesetzt.

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Da jedes dieser terroristischen Verbrechen, die Europa durch den Sommer 2016 begleiten, eine schreckliche inspirierende Wirkung auf andere potenzielle Mörder zu haben scheint, ist zu befürchten, dass der Tatort Kirche nicht zum letzten Mal vorgekommen ist. Bisher haben ja spezifisch christliche Ziele bei im Geiste des "Islamischen Staats" verübten Attentaten im Westen keine besondere Rolle gespielt (anders als jüdische), auch wenn von einer theoretischen Bedrohungslage ausgegangen wurde.

Die gesamte Gesellschaft eines getroffenen Landes – Frankreich, Deutschland – steht im Visier, und sie ist nicht christlich, sondern säkular geprägt. Es ging stets um etwas anderes als um die historische christliche Identität Europas. Dementsprechend wurde in klugen französischen Reaktionen betont, in der Kirche in Saint-Étienne-du-Rouvray sei "Frankreich" attackiert worden.

Keine ideologische Sprache

Die Terrorismuswelle zum Religionskrieg zu erweitern wäre ein großes Entgegenkommen den Absichten des "Islamischen Staats" gegenüber. Selbst die Ausdrucksweise des Attentäters, der angekündigt hatte, er werde "eine Kirche machen", klingt wenig ideologisch – auch wenn er, geht es nach seinem Spiritus Rector, dem IS, natürlich eine gute Wahl getroffen hat.

Bei dem Krieg, den Daesh – eine arabische, abwertend klingende Abkürzung für den IS – im Nahen Osten führt, stehen die Dinge ganz anders als in Europa. Dort werden Christen als Christen attackiert: Die christliche Identität in der Region – die klarerweise um Jahrhunderte älter ist als der Islam – soll ausgelöscht werden.

"Authentische" Gesellschaft

In ihrem Wahn, "Authentizität" herzustellen, wollen die Jihadisten eine Gesellschaft schaffen, die es in der Geschichte nie gegeben hat: eine rein islamische (genauer gesagt eine rein militant sunnitisch-salafistische, die auch jede Art von Volksislam bannt).

Korrekterweise muss man anmerken, dass andere religiöse Minderheiten noch schlimmer betroffen sind als Christen. Je kleiner, desto gefährdeter sind sie: nicht nur physisch im Nahen Osten, sondern auch in der Diaspora, die große Brüche in ihrer Existenz bringen könnte. Davon könnten etwa die Jesiden stark betroffen sein. Denn das ist die tragische Wahrheit, die oft verschwiegen wird: Auch wenn die ganz radikalen Gruppen dereinst verschwunden sein werden, heißt das nicht, dass die islamischen Gesellschaften ihre geflüchteten religiösen Minderheiten wieder freudig zurückholen werden. Das Vorgehen gegen Christen und andere ist auch keineswegs eine Erfindung des IS.

Beim "Islamischen Staat" und in seinem Umfeld spielt jedoch die "Kreuzfahrer"-Rhetorik eine besondere Rolle: Wobei nicht vergessen werden darf, dass US-Präsident George W. Bush ebenfalls das Wort "Kreuzzug" 2001 in einer Rede zur Ankündigung des "war on terrors" in den Diskurs einführte. Im jihadistischen Ideologiebaukasten, dem heute jeder Attentäter die Motivationsbausteine entnimmt, die ihm am besten passen, kann man sich demnach problemlos bedienen, wenn man einen Priester umbringen will.

Man muss aber nicht bis zu den Kreuzfahrern zurückgehen. Der IS hat als erste jihadistische Terrororganisation, die auch Territorium kontrolliert, die Rolle der europäischen Mächte im Nahen Osten im und nach dem Ersten Weltkrieg perfekt für seine Zwecke verwendet. Sein Projekt ist ja explizit ein Alternativangebot anstelle der von den Europäern geschaffenen Staatenordnung.

Die Missionare

Die Christen haben das Unglück, mit den politischen europäischen Projekten im Nahen Osten eins zu eins identifiziert worden zu sein. Historisch stimmt das manchmal ein bisschen, meist jedoch gar nicht. Aber es ist richtig, dass zu den autochthonen alten Christengemeinden mit dem Kolonialismus eben auch die Missionare westlicher Kirchen kamen, die die Wahrnehmung des Christentums als "fremd" erst ermöglichten. Und manche Christen verknüpften ihr Schicksal aus politischen Gründen mit Kräften außerhalb der Region wie die Maroniten mit ihrer engen historischen Bindung an Frankreich.

Kooptierte Christen

Eine weitere tragische Komponente ist, dass die undemokratischen arabischen Regime (von Saddam Hussein im Irak, Assad Vater und Sohn in Syrien, bis zu Hosni Mubarak in Ägypten) die Christen oft zu kooptieren versuchten – und diese es mit sich geschehen ließen, auch in der Hoffnung auf Schutz. Die Christen im Irak wurden nach 2003 sowohl Saddam zugerechnet als auch den amerikanischen Imperialisten, die diesen gestürzt hatten.

Dass das alles dazu führen soll, dass 2016 einem französischen Priester die Kehle durchgeschnitten wird, ist an grausamer Groteske nicht zu überbieten. Den offiziellen Kirchen ist für ihren mäßigenden Einfluss auf den Diskurs in dieser schwierigen Zeit zu danken. Sie sind der lebendige Beweis dafür, dass man aus der Geschichte sehr wohl lernen kann. (Gudrun Harrer, 28.7.2016)