Als Folge von Chinas WTO-Beitritt begann auch die Spielwarenindustrie des Landes zu boomen.

Foto: APA/AFP/STR

STANDARD: Sie schreiben in einer Ihrer jüngsten Studien, dass Ökonomen nur wenig über die wahren Auswirkungen des Freihandels wissen. Wie kommen Sie darauf?

Autor: Stellen Sie sich ein reiches Land vor, in dem nur zwei Produkte erzeugt werden: Computerchips und Kartoffelchips. Dieses Land schließt ein Freihandelsabkommen mit einem Staat ab, der seinerseits nur billige Kartoffelchips herstellt. Was geschieht? Das reiche Land wird seine Computerchips im Ausland verkaufen und anfangen, Kartoffelchips zu importieren. Dank der Exporte erhöht sich der Wohlstand der reichen Nation weiter. Die Konsumenten gewinnen, weil Kartoffelchips im Supermarkt billiger werden. Ökonomen haben sich in der Vergangenheit nur mit diesen Vorteilen des Freihandels beschäftigt und dabei etwas Wichtiges übersehen.

STANDARD: Was?

Autor: Dass, um beim fiktiven Beispiel zu bleiben, viele der Arbeiter nicht mehr gebraucht werden, die vormals Kartoffelchips erzeugt haben. Die ökonomische Theorie besagt, dass durch Freihandel ausgelöste Umbrüche am Arbeitsmarkt rasch bewältigt werden. Ein Industriearbeiter, der seinen Job verliert, kann sich weiterbilden und einen anderen Arbeitsplatz annehmen oder in eine andere Stadt ziehen. Aber das passiert in der Realität nicht.

STANDARD: Sondern?

Autor: Umwälzungen sind langwierig. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Öffnung gegenüber China fatale Folgen in der US-Textil-, Spielzeug- und Möbelindustrie hatte. Viele Arbeiter hatten über Jahre mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen, andere wurden so frustriert, dass sie gar keine Stelle mehr annehmen wollten. Wir sahen dagegen kaum Auswirkungen auf die Mobilität: Menschen sind also nicht weggezogen, um ihr Glück woanders zu suchen. In den ökonomischen Modellen wurde übersehen, welchen Frust ein Jobverlust auslöst und wie schwer ein Umstieg ist.

STANDARD: Zwei Millionen Arbeitsplätze sind in den USA durch die Handelsliberalisierung mit China seit Mitte der 90er-Jahre verlorengegangen. Das ist enorm.

Autor: 150 Millionen Menschen sind am US-Arbeitsmarkt beschäftigt. Im Vergleich dazu war die Zahl der vernichteten Jobs überschaubar. Das gravierendere Problem ist, dass die Verluste lokal konzentriert waren. Industrieproduktion findet in den USA wie im Rest der Welt in bestimmten Regionen statt. Möbel werden in Tennessee und South Carolina produziert, Autos im Mittleren Westen. Der Einbruch bei der Nachfrage nach US-Möbeln als Folge der Marktöffnung traf also einige Regionen mit voller Wucht. Dort stiegen die Arbeitslosigkeit, die Armut und die Kriminalität.

STANDARD: Trump hat also mit seiner teils heftigen Kritik am Freihandel recht?

Autor: Ja, mit vielem. Die größte Unterstützung hat er nicht ohne Grund unter jenen schlecht ausgebildeten weißen männlichen Industriearbeitern, die als Folge der Handelsliberalisierungen unter Druck sind. Ich stimme ihm aber nicht zu, dass eine Abschottungspolitik die richtige Antwort ist. Vielmehr werden wir beginnen müssen, uns zu überlegen, wie man die Verlierer des Freihandels kompensieren kann. Dazu ist eine aktivere Arbeitsmarktpolitik notwendig. Es gibt auch gute Ideen wie die, Menschen, die aus ihren Jobs gedrängt werden und schlechter bezahlte Arbeit annehmen, eine Entschädigung zu zahlen. Zugleich sollten wir beginnen, realistischer über Freihandel zu diskutieren, was die Vorteile betrifft.

STANDARD: Was meinen Sie?

Autor: Die Botschaft der Ökonomen an die Politik lautete jahrelang: Denkt nicht nach, liberalisiert, Freihandel ist immer gut. Dabei sind die Vorteile in großen Ländern nicht bedeutend. Das meiste, was in den USA hergestellt wird, verbrauchen wir selbst, und das meiste, was wir konsumieren, stellen wir selbst her. Wenn man den gesamten Handel zwischen den USA und dem Rest der Welt einstellen würde, wären wir ärmer, aber nicht viel. Für Länder in der Größe von Belgien ist das sicher anders: Das Land ist so klein, dass es den größten Teil seiner Waren importieren muss – die Belgier können nicht selbst die besten Pkws, die besten Computer, die besten Lebensmittel herstellen. Handel hat dort einen viel größeren Einfluss auf den Wohlstand.

STANDARD: So wie Sie klingen, fragt man sich schon, was an einer Abschottungspolitik à la Trump falsch wäre.

Autor: Aus der globalen Perspektive muss man sagen, dass der Aufstieg Chinas, der wesentlich von den Exporterfolgen des Landes abhing, das Beste ist, was der Menschheit seit 100 Jahren passiert ist. 400 Millionen Chinesen sind der Armut entkommen. Der steigende Wohlstand in China hat die Nachfrage nach Rohstoffen in Zentral- und Südamerika erhöht und diesen Regionen geholfen. China hat begonnen, in Afrika zu investieren. Die negativen Konsequenzen für Industrieländer sind in der Gesamtbetrachtung also höchstens ein Rundungsfehler. Zugleich bestreite ich ja nicht, dass Freihandel den Industrieländern Vorteile bringt. Nur sind sie kleiner als dargestellt.

STANDARD: Derzeit sind mehrere Handelsabkommen wie TTIP in Planung. Welche Auswirkungen werden diese Verträge haben?

Autor: Das ist kaum zu prognostizieren. Niemand hat geahnt, welche große Bedeutung der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation WTO 2001 haben würde. China hat damals schon leichten Zugang zum US-Markt gehabt, es gab kaum Zölle. Jeder hat gedacht, mit dem WTO-Beitritt werde nur der Status quo festgeschrieben. Dann kam alles ganz anders, Chinas Exportboom nahm seinen Lauf.

STANDARD: Woran lag das?

Autor: Das weiß bis heute niemand genau, es gibt mehrere Theorien. Chinas Beitritt zur WTO fiel zusammen mit dem Auslaufen des Welttextilabkommens. Dieser Vertrag legte fest, wo welche Textilien hergestellt werden durften. Es gab etwa Begrenzungen, wie viele T-Shirts in Indien oder Bangladesch produziert werden durften. Das Auslaufen des Abkommens wurde kaum beachtet, aber damit begann der Aufstieg Chinas in der Textilindustrie: Das Land konnte mehr produzieren. Der WTO-Eintritt gab zusätzliche Rechtssicherheit, weil Chinas Marktzugang dauerhaft abgesichert wurde. Das alles hat vermutlich zu einer Reihe von Umwälzungen in China geführt und Unternehmen dort wettbewerbsfähiger gemacht. Was ich aus dieser Episode mitnehme, ist, dass die Entwicklung von Handelsströmen schwer prognostizierbar ist.

STANDARD: Ist China ein einmaliger Fall?

Autor: Die schiere Größe Chinas führt dazu, dass die Öffnung des Landes große Umwälzungen ausgelöst hat. Forscher können also Veränderungen leicht messen. Diese Entwicklung wird sich nicht exakt wiederholen. Für die Zukunft kann man aber viel vom China-Experiment lernen. (Andras Szigetvári, 27.7.2016)