Eisenstadt also. Und zwar zum ersten Mal. Laufend, meine ich – und war, als mir das vergangenen Samstag bewusst wurde, zuerst ein bisserl verwundert. Und dann verunsichert: Kann es echt sein, dass ich ausgerechnet in der burgenländischen Landeshauptstadt noch nie gelaufen bin? Obwohl …

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Aber der Reihe nach. Ich kenne Eisenstadt. Nicht gut, aber so halbwegs. Aus 1001 Gründen. Erstens, weil man ungefähr fünf Minuten braucht, um Eisenstadt zu kennen. Okay, vielleicht zehn. Zweitens, weil ich Wiener bin – und meine Eltern etwa auf halber Strecke zwischen Wien und Eisenstadt einen kleinen Wochenendgarten haben. Da führen juvenile Erkundungs- und familiäre Kulturkurztrips geradezu zwangsläufig auch hierher: Haydn & Esterhazy, Esterhazy & Haydn. Noch was? Ach ja: ein paar Kirchen – und das jüdische Museum. Fein. Schön. Wichtig. Aber Laufen? In Eisenstadt? Tatsächlich: war ich noch nie. Ein weißer Fleck auf der Landkarte – und zwar direkt vor der Haustür.

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Mein dritter Grund, Eisenstadt zu kennen: der Job. In den vergangenen sieben Jahren hatte ich alles, nur keinen fixen Arbeitsplatz. "Platz" im Sinne von "Ort": Der Job brachte mich durch halb Europa – und durch so ziemlich ganz Österreich. Und dort, wo ich arbeite, laufe ich. Meist vor, manchmal auch nach der Arbeit. Und in Eisenstadt habe ich etliche Male gedreht. Aber Laufen hat sich nie ergeben: Zu nah an Wien – also Heimschläferjobs. Oder aber wir fuhren gleich weiter: Wie oft ich im Seewinkel, an der langen Lacke oder in der Gegend von Stegersbach oder Oberwart schon unterwegs war, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Aber Eisenstadt? Nada.

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Dann gäbe es noch Bewerbe oder Events: Sankt Pölten? Wings for Life World Run. Linz? Der lokale Halbmarathon. Klagenfurt? Okay, Beachvolleyball- und Bachmannpreis-Irrsinn sind zwar keine Laufveranstaltungen im engere Sinn – aber ohne sportlich-meditatives Regulativ drücke ich beide Events und vor allem die Selbstherrlichkeit der jeweiligen Protagonisten samt Umfeld und Hofschranzen nicht durch. Aber zurück an die Hänge des Leithagebirges: Nennen Sie mich ahnungslos – aber welche Veranstaltung könnte zum Sport nach Eisenstadt rufen? Gibt es hier überhaupt spannende Laufevents oder regionale Laufgruppen? Mir fiele da ad hoc nix ein. Und das ist weder böse noch abschätzig gemeint. Mea culpa, vermutlich.

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Was mich vergangene Woche nun aber doch hierher gebracht hat und mir Zeit und Raum zum Laufen gab? Privatsache. Es hat mit der Geschichte rund um eine Erotikboutique für Frauen zu tun, die gerade in der Fanny-EIßler-Gasse zu finden ist – und in der 14.000-Nasen-Metropole gerade "Talk of the Town" ist. Egal. In diesem Kontext jedenfalls. Fakt ist: Als ich Samstagmorgen hier meine kleine Runde lief, hatte ich dann das Öha-Erlebnis: Eisenstadt war die letzte Landeshauptstadt, die ich noch nicht belaufen hatte. Das letzte Hakerl auf einer Liste, die ich nie bewusst angelegt hatte.

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Wer in Eisenstadt Site-Running betreiben will, hat es leicht. Könnte sogar Sprinter sein: Da gibt es zunächst einmal das Schloss. Wunderhübsch – und voll Geschichte. Nicht nur die aus den Geschichts-, sondern auch aus anderen Büchern.

Eine der schönsten erzählte mir vor Jahren der – leider und viel zu früh verstorbene – Gastro-Journalist und Kochbuchautor Christoph Wagner genau hier. Ich traf ihn, um über sein damals gerad erschienenes "Esterhazy-Kochbuch" zu plaudern – und das Erste, was Wagner tat, war die Dimensionen und Proportionen zurechtzurücken: Heute mag Eisenstadt ein Provinznest sein – aber in der Blütezeit des Absolutismus war es der kulinarische "Place to Be": Hier wurde definiert, was Küche damals zu Kunst machte. Und sogar Ludwig XIV. soll seine Küchenmeister hierher geschickt haben – um zu sehen, zu staunen – und zu lernen. Wien? Die Küche der Habsurger? Wagner lachte. "Eh nett. Aber nix, was Finesse oder Klasse oder Fantasie gezeigt hätte. Dafür musste man zu den Esterhazys kommen."

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Die logische Frage war dann natürlich die nach dem, was die Normalsterblichen aßen. Manche Gastro-Autoren hätten sich das verbeten. Wen kümmern schon die Sterblichen, wenn man den Olymp beschreibt. Wagner aber freute das – und er referierte ausführlich über die Kluft zwischen oben und unten. Prasserei und Hunger. Feudalem Prunk und bitterer Armut. Derartiges, sagte der Gastro-Historiker, dürfe man nie ignorieren oder aus dem Fokus verlieren: "Woher kommt der Reichtum? Wer muss dafür arbeiten?" Ich mochte den Mann.

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Diese Episode fiel mir ein, als ich – ebenfalls in Eisenstadt – einen Sticker einer Linksaußen-Jugendorganisation sah. "Esterhazys enteignen" oder so etwas Ähnliches stand da drauf. Vor 20 oder 25 Jahren hätte ich da wohl noch genickt. Nur: Ohne den – wie auch immer begründeten – Reichtum und Prunk derartiger Adelsgeschlechter, wäre das, wofür wir uns in der Bundeshymne nach der "Heimat großer Söhne und Töchter" selbst auf die Schulter klopfen, inexistent: "Volk begnadet für das Schöne." Ja eh.

Aber: Volk? Joseph Haydn – um in Eisenstadt zu bleiben – war eher nicht vom Volk engagiert, bezahlt und gefördert worden. Und Eisenstadt ohne Haydn? Das wäre wie Salzburg ohne Mozart. Irgendwie nämlich nix.

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Abgesehen von Schloss und Haydn-all-over hat Eisenstadt noch eine Hauptstraße. Mit ein paar Cafés, Pizzerien und Eissalons – einer schmucken Pestsäule und einem Brunnen. Die Hauptstraße ist Fußgängerzone, und die hat vor allem den Zweck, dass der komplette Verkehr rund um sie und somit die gesamte Innenstadt herum in einer hübschen Einbahn geleitet wird. Das wäre an sich ein intelligentes Tool, um Autofahrern klarzumachen, dass es sinnlos ist, in einer Zwergstadt wie dieser mit dem Auto spazieren zu fahren …

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…, weil aber Intelligenz und städtisches Autofahren nicht zwingend viel miteinander zu tun haben, fahren die Menschen hier ebenso wie im Rest Österreichs halt lieber einmal außen rund um die gesamte Innenstadt herum und suchen dann einen Parkplatz – anstatt die 50 Meter von der einen Seite der Fußgängerzone zur anderen zu gehen.

Dabei ist Eisenstadt-Downtown echt süß. Auch wenn man es halt wirklich nach einmal Hauptstraße runter und einmal am Haydnhaus vorbei und zurück dann gesehen hat. Und die Gehsteige pünktlich um 20.15 Uhr hochgeklappt werden: Da fängt Fernsehen an.

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Was Eisenstadt noch hat? Einen Schlosspark. Der ist nicht nur zauberhaft und schön und facettenreich, sondern bietet auch echte Überraschungen. Besonders in der Früh: Das fünfköpfige Rehrudel (heißt das überhaupt so? Ich bin ja ein Städter …), das mir da plötzlich gegenüberstand, erwischte mich am falschen Fuß – und mit der Kamera in der Tasche.

Aber die Enten am Teich, die nicht im Traum daran dachten, abzuhauen, waren auch nett.

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Abgesehen davon dürfte der Schlosspark aber auch ein attraktives Pokémon-Habitat sein: Der junge Mann auf der Bank sagte jedenfalls, dass das hier ein guter Spot sei. Und auf der Nachbarbank saßen drei weitere Teenager und jagten. Oder spielten. Oder was auch immer. Um acht Uhr morgens – und, nein, sie hatten nicht durchgemacht: Ich muss das ja nicht verstehen, oder?

Andererseits kann ich hier meine Großmutter endlich wieder zitieren. Die gute Frau hätte vermutlich gesagt, was sie auch uns immer predigte. "Hauptsache die Kinder sind an der frischen Luft."

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Der Eisenstädter Schlosspark ist im Übrigen der ideale Ort, um mit einem Vorurteil aufzuräumen: Das Burgenland ist nämlich nicht flach. Ganz im Gegenteil. Aber während Obelix' Fazit über die Schweiz in "Asterix bei den Helvetiern" als Witz durchgeht und niemand von der Oberfläche des Genfer Sees auf die ganze Schweiz schließen würde, wird bedenkenlos von Schilfgürtel und Neusiedlersee auf das ganze Burgenland geschlossen. Merke: Burgen baute man auf Berge. Hügel. Kuppen. Anhöhen. Mit Gründen. Und auch wenn Eisenstadt nicht hochalpin ist (Eintrag im "Lexikon des nutzlosen Wissens: Das Burgenland ist das einzige Bundesland ohne landeseigene Bergrettung"), habe ich auf der gut ausgeschilderten Laufrunde im Schlosspark aber auch quer durch die Stadt mehr Höhenmeter gesammelt als bei vergleichbaren Site-Jogs durch das Zentrum von Innsbruck.

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Natürlich ist das ein bisserl überspitzt formuliert. Denn sogar dann, wenn man nach dem "klassisch" innerstädtischen Teil noch über den Jerusalemplatz ins ehemalige jüdische Ghetto – vorbei an der Kette, mit der im jüdischen Viertel an den Feiertagen Durchzugsverkehr und Shabbes-Ruhestörungen verhindert wurden –, vorbei am Jüdischen Museum und eventuell sogar noch bis zur Haydnkirche läuft, ist Eisenstadt als Stadt dann läuferisch recht bald ausgereizt. Fein, nett, sympathisch – aber halt doch recht klein.

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Und das sage ich, obwohl ich derzeit alles andere als ein Langstreckenfetischist bin: Lediglich acht Kilometer gesteht mir meine Trainerin Sandrina Illes als längste Laufeinheit der Woche ("gemütlich – und ja nicht in den Schmerz hinein") mittlerweile gnädig zu. Mit der ausdrücklichen Option, das Limit jederzeit wieder auf null herunterzusetzen, wenn es wehwehchentechnisch angebracht scheint.

Euphorisch macht mich das natürlich nicht. Der Weg zurück zur echten Langstrecke, das weiß ich und spüre es vor allem, wird noch lang. Und nicht einfach. Und es gibt keine Garantie anzukommen.

Doch darum geht es nicht: Ich laufe. Und gerade Quickies wie dieser Morgenlauf in Eisenstadt erzählen eine andere Geschichte. Die vom Verlagern des Fokus. Vom Ziel auf den Weg – und die Freude darüber, überhaupt unterwegs sein zu können. (Thomas Rottenberg, 27.7.2016)

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