Thomas Bach gibt prinzipiell grünes Licht für einen Start russischer Sportler in Rio.

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An der Leichtathletik-Europameisterschaft im Juli in Amsterdam hatte Informantin Julia Stepanowa als "neutrale" Athletin teilnehmen dürfen, die Olympier jedoch legen andere Kriterien an.

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Rio de Janeiro / Lausanne – Das Internationale Olympische Komitee (IOC) verzichtet auf eine Sperre aller russischen Sportler bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro vom 5. bis 21. August. Das gab das IOC am Sonntag im Anschluss an eine Telefonkonferenz des 15-köpfigen Exekutivkomitees unter Leitung von Präsident Thomas Bach bekannt.

Sportler, die gegenüber ihren Fachverbänden den Nachweis erbringen können, nicht in das russische Staatsdopingsystem involviert gewesen zu sein, dürfen in Rio starten. Für sie gelten jedoch spezielle Auflagen. Keine Startberechtigung erhielt "Whistleblowerin" Julia Stepanowa, sie und ihr Ehemann werden vom IOC aber nach Rio eingeladen.

Das IOC reagierte mit dem Beschluss auf die Ergebnisse des von der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) in Auftrag gegebenen McLaren-Berichts, der am vergangenen Montag enthüllt hatte, dass es in Russland "mindestens von Ende 2011 bis August 2015" ein staatlich organisiertes und überwachtes Dopingsystem gegeben hatte.

Die Wada hatte als Konsequenz den Ausschluss Russlands von den Olympischen Spielen gefordert. Man rufe die Sportbewegung auf, den russischen Sportlern die Teilnahme an internationalen Sportereignissen inklusive Rio zu verwehren, bis sich ein Kulturwandel vollzogen hat.

Unschuldsvermutung

"Die Entscheidung wird sicher nicht jedem gefallen, aber es geht um Gerechtigkeit. Die Entscheidung respektiert das Recht eines jeden sauberen Athleten auf der ganzen Welt", begründete Bach, der erst vor wenigen Tagen "härteste Maßnahmen" angekündigt hatte, den Beschluss.

"Die IOC-Exekutive stand vor einer sehr schwierigen Entscheidung. Wir mussten die Konsequenzen aus dem McLaren-Report ziehen. Wir mussten dabei die Balance finden zwischen der Gesamtverantwortung und dem Recht des Einzelnen, um jedem Athleten gerecht zu werden", so Bach weiter. "Jeder muss die Chance haben, auf die Anschuldigungen zu reagieren, es gilt die Unschuldsvermutung. Deswegen haben wir strenge Kriterien entworfen, die jeder russische Sportler erfüllen muss, wenn er an den Olympischen Spielen teilnehmen will."

ÖOC: "Sinnvoller Kompromiss"

ÖOC-Generalsekretär Peter Mennel sprach von einem sinnvollen Kompromiss. Der Verzicht auf eine Komplettsperre sei fair. "Es wäre ungerecht jenen Athleten gegenüber, die entsprechende internationale Tests vorweisen können und keine Auffälligkeiten in der Vergangenheit hatten."

Nada Österreich: Chance verpasst

Ganz anders sieht das Michael Cepic, Geschäftsführer der österreichischen Anti-Doping-Agentur (Nada): "Wir sind maßlos enttäuscht vom IOC. Denn natürlich hätte es unschuldige Sportler getroffen, aber in erster Linie geht es um die restlichen 9.500 oder 10.000, die sich alles in allem einem normalen Anti-Doping-Regime unterwerfen und in Rio teilnehmen. Die schützt man mit dieser Nachricht ganz sicherlich nicht. Mehr als enttäuschend, fast skandalös ist, dass Frau Stepanowa nicht teilnehmen darf, das ist heftig." Und Cepic fragt sich: "Welche Verstöße gegen die Anti-Doping Bestimmungen müssen noch aufgedeckt werden, damit das IOC selbst aktiv wird?"

Mit der Abwälzung der Verantwortung auf die internationalen Verbände sei eine große Chance für die Anti-Doping Arbeit verpasst worden, hieß es in einer Nada-Aussendung. Es werde sich zeigen, ob die internationalen Verbände trotz des enormen Zeitdrucks der Aufgabe gewachsen sind, anhand klarer Vorgaben zu evaluieren, welchen russischen Sportlerinnen und Sportlern eine Teilnahme ermöglicht wird.

"Verdienst zu groß"

Erste Reaktionen aus Russland trudelten ebenfalls ein. "Die Entscheidung des IOC war zu erwarten. Russland ist nicht das Land, mit dem man so unfair umspringen kann. Zu groß ist das Verdienst der russischen Sportler, die seit 1952 an den Olympischen Spielen teilgenommen haben", erklärte Gennadi Aljoschin, Chef des Koordinationsausschusses im russischen Olympischen Komitee.

Der Leiter des russischen Ringerverbands, Michail Mamiaschwili, 1988 selbst Olympiasieger in Seoul, äußerte sich zuversichtlich, dass die russischen Ringer in Rio zugelassen werden: "Ich bin sicher, dass alles normal laufen wird. Die vereinte Ringerwelt wird die russischen Ringer bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro zulassen."

Russlands Sportminister Witali Mutko glaubt an eine starke Präsenz russischer Athleten in Rio. Er sei sicher, dass die Mehrheit der infrage kommenden Sportler antreten werde, sagte Mutko. "Unsere Mannschaft nimmt an den Olympischen Spielen teil. Ich hoffe, dass wir uns über Siege freuen werden."

Selbstkritischer fiel die Stellungnahme von Igor Lebedew aus, dem stellvertretenden russischen Parlamentsvorsitzenden: "Ich denke, dass unabhängig von der Entscheidung des IOC alle unsere Sportfunktionäre bestraft werden müssen. Was passiert ist, ist ein harter Schlag für den Sport in Russland. Ich glaube auch, dass ernsthafte Kaderwechsel und schwerwiegende Entscheidungen in unserem Sportsektor anstehen."

Informantin Stepanowa hat das Nachsehen

Sicher nicht in Rio dabei: Julia Stepanowa, die als Informantin die Aufdeckung des Staatsdopingsystems ins Rollen gebracht hatte. Zwar "begrüßt die Ethikkommission den Beitrag der Leichtathletin zum Anti-Doping-Kampf", da sie aber selbst mindestens fünf Jahre Teil des Systems gewesen sei, "erfüllt sie nicht die ethischen Anforderungen an einen olympischen Athleten".

Das IOC führte aus, man sei "dankbar für ihr Engagement, deshalb laden wir sie und ihren Ehemann ein, in Rio Gäste des IOC zu sein. Wir zeigen damit, dass wir bereit sind, sie zu unterstützen." Die Mittelstreckenläuferin hatte beantragt, als neutrale Athletin an den Spielen teilnehmen zu dürfen, es jedoch abgelehnt, als Mitglied des russischen Teams anzutreten. Der Leichtathletik-Weltverband hatte ihr eine Starterlaubnis erteilt. (sid, ab, red, 24.7.2016)

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Die Entscheidung des IOC im Wortlaut