Die Freitagsputschisten wollten den türkischen Staat umstürzen, jetzt ist es Tayyip Erdoğan, der ihn auf den Kopf stellt. Suspendierungen, Verhaftungen, Ausreiseverbote hören nicht mehr auf. Die Sicherheitsapparate, der gesamte öffentliche Dienst werden ausgeweidet auf der Suche nach angeblichen Putschisten. Die türkische Privatwirtschaft ist als Nächstes dran. Private Medien und Universitäten hat es schon getroffen. Der autoritär regierende Präsident fährt mit eiserner Faust durch seinen Staat.
Es geht gegen das angebliche Netzwerk von Fethullah Gülen, dem Prediger und einstigen politischen Verbündeten Erdoğans. Dabei werden die türkischen Behörden schon seit zweieinhalb Jahren von "Fethullahçi" gesäubert, Polizisten, Richter und Staatsanwälte pausenlos versetzt oder entlassen. Jetzt aber scheinen alle Dämme gebrochen. Die Panzer der Putschisten haben ironischerweise Erdoğan den Weg freigemacht. Er entledigt sich nun auch gleich aller unsicheren Kantonisten und politisch Andersdenkenden. Diesen Schluss legt das neue Ausreiseverbot für Akademiker nahe. Erdoğan hatte sie schon vor dem Putsch im Visier wegen ihrer Haltung zum Krieg in den Kurdenstädten.
Wohin geht nun die Reise? Wird der große Gegenschlag, zu dem Erdoğan ausgeholt hat, die türkische Demokratie bewahren oder gar stärken? Es wäre naiv, dies zu glauben. Alles andere scheint dafür möglich: Ausnahmezustand, Auflösung des Parlaments, Übernahme der Staatsgewalt. Die Türkei fährt einer Diktatur entgegen, gestützt auf die willfährigen Anhänger des Präsidenten.
Erstmals haben Erdoğan und seine konservativ-islamische Partei AKP die Macht auf der Straße übernommen. Aufrufe an die Anhänger, hinauszugehen und den Linken, den Gewerkschaften, den Frauen, den Kurden, den liberalen Intellektuellen, allen Säkularen das Forum für Proteste wegzunehmen, hat es in den Jahren seit der Gezi-Revolte 2013 immer wieder gegeben. Oft grenzten diese Appelle gefährlich nahe an die Billigung von Selbstjustiz. In der Putschnacht wurde es Wirklichkeit.
Die Soldaten, die erschlagen wurden, haben die säkulare Minderheit in der Türkei noch zusätzlich schockiert. Den Tod jenes Soldaten auf der Istanbuler Bosporus-Brücke, dem angeblich die Kehle durchgeschnitten wurde, verstehen die Liberalen als Signal: In der neuen Türkei, die nach dem gescheiterten Putsch entsteht, haben sie still zu sein. Schon plädiert ein Berater Erdoğans für Erleichterungen beim Waffenkauf durch Zivilisten.
Der ungewöhnliche Parteienkonsens, der sich gegen den Putsch artikuliert hat, bricht jetzt unter dem Eindruck der enormen "Säuberungswelle" wieder auseinander. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, ebenso wie die prokurdische Minderheitenpartei HDP lehnen die Wiedereinführung der Todesstrafe ab. Sie wollen die Türkei in Europa halten. In Wahrheit kämpft die Opposition nun auch um ihr Überleben.
Gerichtsverfahren gegen führende Parlamentarier der Opposition waren schon vor dem Putsch eingeleitet worden. Die Ausschaltung der Kurdenpartei ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Sozialdemokraten bäumen sich auf. Sie haben für Sonntag eine Kundgebung auf dem Istanbuler Taksim-Platz angekündigt. Den hat das Erdoğan-Volk in der Hand. Ein Bürgerkrieg ist nun das schlimmste Szenario. (Markus Bernath, 20.7.2016)