Für einen erwachsenen Menschen ist's einigermaßen misslich, den sich als Kontrahenten in den Ring drängenden Rechtsphilosophen mit dem Hinweis zu inkommodieren, dass man das, was er hier über einen behauptet, gar nicht gesagt habe. Was auch immer im Kurier (6. 7.) zum Abdruck kam, es war gewiss nicht das, was Christoph Kletzer (Standard, 13. 7.) nun als Anlass nahm, mich in durchaus herabsetzend gemeinter Manier daran zu erinnern, dass zum Lesen auch das Denken gehöre. – Ja, no na!

Uns interessiert hier nicht Kletzers versuchte und sogleich misslungene (und sachlich inadäquate) Beispielrechnung, die einem Milchmädchen leichter von der Hand gegangen wäre. Aber wer eins und eins nicht zusammenzählen kann, der muss sich schon in großer Gewissheit wiegen, dass wenigstens seine außerarithmetischen Darlegungen Gehalt haben. Aber Kletzer kann nicht nur nicht rechnen:

Art. 141 Abs. 1 B-VG ist eindeutig: "Der Verfassungsgerichtshof hat einer Anfechtung stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war." Der VfGH ändert unsere Verfassung seit Jahrzehnten um in: "... von Einfluss sein konnte". Das hat sich inzwischen herumgesprochen.

Manche jedoch sagen, damit schreibe der VfGH die Verfassung um. Wo der Wortlaut klar sei, müsse er nicht mit seinem hermeneutischen Besteck fuhrwerken. Sollte Kletzer die Regel in claris non fit interpretatio nicht bekannt sein, dann könnte er sich von einer englischen Kollegin über die "plain meaning rule" informieren lassen, wonach Gesetze entsprechend dem üblichen Sprachgebrauch zu interpretieren sind. Im Verfassungsrecht ist dies besonders wichtig, weil nur dadurch gewährleistet ist, dass das Gericht nicht in politischer Absicht "ausbricht", indem es den Wortlaut der Verfassung nach Belieben ändert.

Nun wissen wir nicht, ob die VfGH-Mitglieder allmorgendlich zum Andachtsbüchlein greifen, um ihr Werk am Gerichtshof wohlgestimmt zu verrichten. Aber die besseren Gründe sprechen dafür anzunehmen, dass selbst diese Lektüre sie nicht davon abhalten sollte, unsere Verfassung einzuhalten – und dass sie also zu prüfen hätten, ob Gesetzesverletzungen tatsächlich von Einfluss auf das Wahlergebnis waren. Das lässt sich durch ein Beweisverfahren und die Zuhilfenahme naturwissenschaftlicher Methoden ermitteln – und wenn es keinerlei (!) Indizien für eine Wahlmanipulation gegeben hat, dann hätten sie festzustellen gehabt, dass die Gesetzesverletzung nicht von Einfluss war und dass deshalb die Wahl nicht aufzuheben ist.

Herr Kletzer schummelt sich ums Thema herum und will uns glauben machen, der VfGH hätte nicht anders gekonnt – ich meine, er hat nicht anders gewollt. (Alfred J. Noll, 19.7.2016)