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Zeichen der Erinnerung an die Opfer des Terroranschlags in Nizza werden wohl noch länger auf der Promenade des Anglais zu sehen sein.

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Hinter der Fassade der mondänen Strandpromenade zeigt sich Nizza in anderen Vierteln, wo viele Einwanderer leben, weniger prächtig.

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Das helle Lachen ist bis zur Bushaltestelle zu hören. Zwei Mädchen amüsieren sich köstlich über das, was am Handy-Display zu sehen ist. Die beiden rund 15-Jährigen sitzen auf einer Haustreppe im Quartier Abbatoirs – und beide tragen einen rabenschwarzen Ganzkörperschleier, der nur ihre Gesichter offen lässt.

Hier oben, wo die Hügel des Hinterlandes von Nizza beginnen, gehört diese Art der Kleidung bald schon zum Alltag. Nur ein paar Schritte weiter wohnte Mohammed Lahouaiej-Bouhlel, der an der Strandpromenade von Nizza am vergangenen Donnerstagabend mit einem Lastwagen 84 Menschen zu Tode fuhr. Die Promenade des Anglais ist hier etwa so weit weg wie der Mond. Dort unten – zwischen Casino Ruhl und Hôtel Negresco, wo Paläste und Pailletten prangen, wo sich französisches Savoir-vivre mit italienischer Grandezza mischt – zeigen die Damen der Schöpfung im Gegensatz zu hier so viel braungebrannte Haut wie möglich.

"Der Islam ist unschuldig"

Hier oben, in der Banlieue-Zone, wartet Imam Ahmed Boulaya vor dem Spital Pasteur 2. Er besucht verletzte Attentatsopfer, liest ihnen Passagen aus dem Koran vor. "Dieser Wilde respektierte den Islam nicht", sagt er. "Der Islam ist unschuldig."

Gutgemeinte Worte. Bloß würden die Jugendlichen nicht mehr darauf hören, meint die klinische Psychologin Amélie Boukhobza in ihrer Praxis an der Avenue Félix Faure. Sie hat die Vereinigung Entr'Autres gegründet, um gegen die "geistige Jihadisierung" anzukämpfen, wie sie selbst sagt. Der Trend zur islamistischen Radikalisierung habe sich in Nizza seit dem Jahr 2012 stark beschleunigt.

Auch wenn der genaue Bezug des Attentäters zur Terrorsphäre noch ungeklärt sei, ist Boukhobza keineswegs überrascht über dem Anschlag: "Wir warteten geradezu darauf. Es gab schon Messerattacken auf ein jüdisches Gemeindezentrum, und 2014 wurde ein Anschlag auf den Karneval von Nizza in letzter Minute vereitelt." Doch warum Nizza, diese scheinbar reiche Stadt mit dem mediterranen Flair?

Die Psychologin holt Atem und erzählt: In Marseille, der armen und chaotischen Hafenstadt am anderen Ende der Côte d'Azur, seien die Bezirke im Norden noch berüchtigter. Dort würden aber die Drogenbanden verhindern, dass sich die Salafisten breitmachen. Im bürgerlichen Nizza habe die starke Polizei zwar den Drogenhandel wirksam bekämpft – nicht aber die Islamisten.

Heimat von Hasspredigern

Um die Jahrtausendwende seien viele Vertreter algerischer Islamistengruppen wie FIS oder GIA nach Nizza übersiedelt, einige auch über die Grenze nach Italien, um der französischen Polizei zu entgehen. Der Bekannteste ist Omar Omsen, ein charismatischer Senegalese, bereits für Mord verurteilt. Im Viertel um Pasteur 2 wohnhaft gewesen, habe er in Nizza Dutzende von Jugendlichen zur Abreise nach Syrien oder in den Irak überredet. Seitdem er selber in Syrien sei, hätten andere Hassprediger seinen Platz eingenommen.

"Sie sind vor Moscheen, Sportclubs und Mittelschulen aktiv, und ihr Einfluss nimmt überall zu", erzählt Boukhobza. "Im kürzlich zu Ende gegangenen Ramadan wurde hier eine muslimische Kellnerin von Gästen geohrfeigt, weil sie Alkohol servierte. Viele Lehrer berichten uns, dass sie seit zwei, drei Jahren keinen normalen Unterricht mehr halten können. Im Musikunterricht wollten die Schüler keine Musik hören; im Zeichenunterricht keine nackten Figuren zeichnen; in Biologie weigern sie sich, über Darwins Theorien zu sprechen; und im Fach Geschichte unterbrechen sie den Lehrer mit dem Hinweis: Nein, der Islam sei die erste Weltreligion gewesen."

Diskriminierung Jugendlicher

Ältere Jugendliche würden zudem im Gefühl von Diskriminierung und Erniedrigung bestärkt und zur Rache angehalten, meint Boukhobza. "Dieser Opferdiskurs ist der Nährboden des Terrorismus. Es ist eine politische Ideologie mit einem religiösen Einschlag, die individuelle Motive von fragilen, gewaltbereiten Jugendlichen benützt."

Die Psychologin betont, der Antrieb sei politisch. "Das sind keine Psychopathen, die ihre suizidären Neigungen übertragen. Von Vergleichen – etwa mit dem Co-Piloten der Germanwings-Maschine, der andere Leute mit sich in den Tod riss – halte ich nichts. Diese Terroristen handeln politisch."

Auch, wenn sie willentlich Kinder überfahren, wie es nun in Nizza geschehen ist? "Durchaus", bekräftigt die Psychologin. "Sie sind überzeugt, für das Gute zu handeln, gegen die Korruption des Westens, gegen die Ungläubigen – und persönlich für einen Platz im Paradies."

Boukhobzas Verein leistet mühsame Feldarbeit in Schulen, Sozialdiensten und Polizeiwachen, um sie über diese Zusammenhänge aufzuklären. Eine bitter nötige Mission hier an der Hügelflanke, wo entlang der Buslinie 6 kein einziger Polizist zu sehen ist.

Vernachlässigtes Viertel

Während an der Strandpromenade sogar das Militär patrouilliert, bleibt das ehemalige Wohnhaus des Attentäters unbewacht. Das ärgert auch eine junge Frau, die allein an der Haltestelle Vauban wartet. Wegen der Terrorgefahr nehme sie den Bus nur noch in Notfällen, sagt die Senegalesin, die mit einem ärmellosen T-Shirt und zerrissenen Jeans bekleidet ist. Offenherzig schimpft sie über die "sogenannten Jihadisten", die ihrer Religion so viel Leid zufügen würden. Ob sie es wagen würde, in dem hiesigen Viertel einen Rock zu tragen? Darauf gibt die Frau keine Antwort mehr, denn jetzt kommen ein paar männliche Passanten zur Haltestelle. (Stefan Brändle aus Nizza, 20.7.2016)