Schlange vor einem Wiener Sozialmarkt, der verbilligte Artikel anbietet: Fallen die österreichweiten Standards der Mindestsicherung, könnten Bedürftige vermehrt in die Hauptstadt drängen.

Foto: Ronald Zak

Wien – Der Schlagabtausch wird allmählich Routine. Die ÖVP unterbreitet einen Vorschlag nach dem anderen, wie die Mindestsicherung verschärft werden könnte, die SPÖ lehnt regelmäßig ab – so auch den jüngsten Vorstoß von Peter McDonald im STANDARD. Dass der VP-Generalsekretär die Auszahlung der Sozialleistung von den eingezahlten Beiträgen abhängig machen will, zeugt für Sozialminister Alois Stöger von "Unkenntnis". Schließlich sei die Mindestsicherung als letztes soziales Sicherheitsnetz gedacht, nicht als Versicherungssystem.

Was, wenn die monatelangen Verhandlungen über die Reform der Mindestsicherung scheitern? Dann läuft mit Jahresende jene 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern aus, die österreichweite Mindeststandards – etwa die Basisleistung von monatlich 837,76 Euro für Einzelpersonen, 1.256,64 Euro für Paare und 150,80 Euro pro Kind – festlegt. Bezieher fallen deshalb noch nicht automatisch um ihr Geld um, denn die konkreten Leistungen sind in den jeweiligen Landesgesetzen fixiert. Doch die Länder könnten das Niveau in der Folge nach Belieben senken.

Gefallene Untergrenzen

Nur mehr die Höchstgerichte hätten es dann in der Hand, Untergrenzen zu setzen, sagt Walter Pfeil, Sozialexperte an der Uni Salzburg. Gerade die von Teilen der ÖVP geforderte Begrenzung auf 1.500 Euro könnte vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben werden, glaubt Pfeil: Es sei unsachlich, wenn eine Leistung – wie sich aus der Deckelung ergäbe – vom zweiten aufs dritte Kind auf null heruntergefahren werde.

Ein Ende der Vereinbarung böte den Ländern allerdings nicht nur die Möglichkeit, Sozialleistungen einzusparen, sondern droht ihnen auch Geld zu kosten. Auslaufen würde jene "Ausfallshaftung", über die der Bund den Ländern die Kosten für die Krankenversicherung der Bezieher ersetzt. Heuer werde diese 48 Millionen Euro betragen, prognostiziert das von der SPÖ regierte Sozialministerium, das für das deckelungswillige Niederösterreich auf Basis der Zahlen von 2014 ein Verlustgeschäft errechnet: Das Ende der Ausfallshaftung koste das Land drei Millionen, die Begrenzung der Mindestsicherung auf 1.500 Euro bringe nur 2,4 Millionen an Ersparnis.

Noch eine für die Länder günstige Regelung gibt es. Verkürzt: Der Bund stockt die Notstandshilfe in Fällen, in denen das Einkommen des Partners gegengerechnet wird, auf, sodass sich die Länder Geld für die Mindestsicherung ersparen – laut Sozialministerium waren das im Vorjahr 109 Millionen.

Goodies als Druckmittel

Diese Goodies sind das einzige echte Druckmittel in der Hand von Minister Alois Stöger. Ohne Einigung befürchtet der Ressortchef ein "race to the bottom" – also einen Wettbewerb um das niedrigste Niveau. Könnten kürzungswütige Landeshauptleute Bedürftige auf diese Weise also in andere Bundesländer vertreiben?

Der vom Ministerium als Experte zu den Verhandlungen beigezogene Pfeil beschreibt das Phänomen differenziert. Es sei nicht die Regel, dass Bezieher der höchs-ten Sozialleistung nachliefen, schließlich seien Menschen an ihren Wohnorten verwurzelt. Werden aber die Niveauunterschiede zu groß, könnte der Ruf des Geldes gerade von Flüchtlingen vermehrt erhört werden.

Niederösterreich versuche seit Jahrzehnten, Bedürftige an Wien loszuwerden, kritisiert Martin Schenk von der Armutskonferenz; dass subsidiär Schutzberechtigten – diese bekommen kein Asyl, können aber nicht abgeschoben werden – heuer die Mindestsicherung gestrichen wurde, sei der jüngste Versuch. Ohne Bund-Länder-Abkommen drohten alle Dämme zu brechen, warnt Schenk. Er befürchtet einen Rückfall in alte Zeiten, als die Sozialhilfe weniger einem Grundrecht als einem Almosen geglichen habe, das die mit viel Handlungsspielraum ausgestatteten Ämter ohne verlässliche Standards verteilten.

Gesprengtes Korsett

Legen es manche Länder darauf an, das Korsett zu sprengen? Natürlich wolle man einheitliche Regelungen, beteuert man im Büro von Niederösterreichs Soziallandesrätin Barbara Schwarz (ÖVP): "Wir haben kein Interesse an Sozialtourismus." Dem Land gehe es um ein gerechtes System, nicht um Einsparungen – deshalb spielten Fragen wie die Ausfallshaftung nur eine Nebenrolle.

"Einen Rückfall in das alte Sozialhilferegime mit neun unterschiedlichen Regelungen können auch ÖVP-Hardliner nicht wollen", glaubt Wiens Sozialstadträtin Sonja Wehsely, die so oder so aber einen Schutzmechanismus für die rot-grün regierte Hauptstadt fordert: Eine "Wohnsitzauflage" soll verhindern, dass sämtliche Asylberechtigte – etwa wegen der gutdotierten Mindestsicherung – nach Wien ziehen.

Auch ein neuer Mindestsicherungsvertrag bietet allerdings keine Garantie, dass sich alle Länder daran halten. Die von Oberösterreich verhängten Kürzungen für Flüchtlinge widersprechen etwa dem geltenden Pakt. Verstöße wie diese lassen sich zwar beim VfGH anfechten, sagt Experte Pfeil, beschreibt die realen Konsequenzen aber mit einem Wort: "zahnlos". (Gerald John, 19.7.2016)