Marko Mandić als Pylades.

Foto: Barbara Pálffy

Wien – Pylades ist eine Nebenfigur der griechischen Mythologie: ein Gefährte des Orest, dem Sohn von Agamemnon und Klytaimnestra und Bruder der Elektra. Um seinen eigenen Sagenkreis zu bekommen, musste ein antiker Held schon mehr leisten.

Auch um am Off-Off-Broadway aufzufallen, muss man etwas bieten. La MaMa weiß das seit 55 Jahren – Richard Foreman, Philipp Glass oder Robert DeNiro schreibt sich die Theatertruppe etwa als Ehemalige stolz auf die Fahnen. Am Sonntag gaben die New Yorker ein Gastspiel beim Welt-Theater-Festival Art Carnuntum. Ist die antike Kulisse dort das ganze Jahr über zu beschauen, war es La MaMas Pylades nur für einen Abend. Dieser begann mit der Einschwörung des Dutzends an Darstellern und Musikern auf das Kommende. Vertrautheit war in der Tat nötig.

La MaMa

Denn, damit ihnen nicht kalt wurde, ließen die über weite Strecken verschwenderisch nackten Leiber es sehr körperlich zugehen: Ob zum Sex, zur Rauferei oder nur zur Steigerung der künstlerischen Intensität schlugen und gebärdeten sie sich bis zur Erschöpfung, drangen lust- und gewaltvoll ineinander oder in Melonen ein, tanzten mal ausgelassen und mal akrobatisch, erleichterten sich in Kübel, sangen, schleuderten ihre Deklamationen laut in den Echoraum der Nacht hinaus. Regisseur Ivica Buljan inszenierte mit vielen Stimmungen und viel Einsatz. Manches tat schon allein beim Zuschauen weh. Kurzum: Pier Paolo Pasolini hätte seine Freude dran gehabt!

Nicht von ungefähr: Der italienische Regisseur und Dichter steht den martialisch-orgiastischen eineinhalb Stunden in Doppelfunktion Pate. Zum einen forderte er Ende der 1960er per Theatermanifest: "Skandalisieren muss man die Welt." Zum anderen stammt aus dieser Zeit sein Pylades als Erweiterung des Orest-Mythos: Nachdem jener seinen Vater gerächt und seine Mutter getötet hat, will er als Thronerbe Mykenes eine neue Gesellschaft errichten. Auch Pylades schwebt die Revolution vor. Allerdings anders: "Wähle niemanden, der höher steht als du", mahnt er das Volk. Ein Bruderzwist der Utopisten.

Offen wie ein Schoß

Demokratie, Konsum, Kapitalismus, Religion – damit traf Pasolini einen Nerv seiner Zeit. Wieder auf lebt jene in der zuletzt zum "Best Play of the New York Season" erklärten Inszenierung sichtlich in den Kostümen (Lederjacken, leichte Kleider, Cowboystiefel mit Fransen). Ansonsten beschränken sich die Requisiten sehr konzentriert auf ein paar Teppiche, einen Stein. Schlussendlich liegt der Spielboden ganz bloß da, sozusagen: illusionslos wie die Charaktere.

Der Einsatz des Ensembles ist bewundernswert, es lässt Pasolinis Theoretisieren prächtig im Schweiße der Tat glänzen. So offen wie der Schoß einer der Darstellerinnen liegt einem die Frage auf der Zunge, ob neben eindrucksvoll choreografierten Szenen das Ausziehen nicht manches Mal ein bisschen zum Effekt verkam. Neben besagter Scham zählte man vier Penisse und drei Paar Brüste.

Zweifellos ein unerwarteter Kontrapunkt zu diesem Theatersommer inmitten von Getreidefeldern und Windrädern. (Michael Wurmitzer, 18.7.2016)