Nach der schnellen Niederschlagung des Putsches in der Türkei brodelte – wie gewohnt – die Gerüchteküche des Landes. Besonders im säkularen Spektrum des Landes gibt es viele, die den Putschversuch als ein Szenario des Staatspräsidenten oder der Regierung betrachten, das es ihm ermöglichen sollte, die Justiz endgültig gleichzuschalten.

Die bittere Wahrheit ist, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dafür den Putsch gar nicht gebraucht hätte. Denn die Regierung hat dem Parlament bereits vor Wochen einen Gesetzesentwurf zugeleitet, der ihr die Kontrolle über die Besetzung des Kassationsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofs ermöglichen soll. Der linksliberale Juristenverband "Yargida Birlik" hatte in diesem Zusammenhang schon vor dem Putschversuch davor gewarnt, dass im Rahmen der Hatz gegen die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen in der Justiz auch seine Mitglieder aus den Gerichten hinausgedrängt werden sollen.

Die Regierungspartei AKP besitzt im Parlament die absolute Mehr-heit, und niemand kann sie daran hindern, ihre Pläne umzusetzen. Der Entwurf sieht vor, die Zahl der Richter, aber auch der Kammern des Kassationsgerichtshofs um nahezu die Hälfte zu verringern, und ganz Ähnliches ist für den Verwaltungsgerichtshof vorgesehen. Für die Auswahl der Richter, die dann übrig bleiben, ist der Hohe Rat für Richter und Staatsanwälte zuständig.

Rasend schnell und ...

Wie wenig unabhängig dieses formal selbstständige Gremium von der Regierung ist, zeigt sich daran, dass der Rat gestern Ermittlungen gegen 140 Richter des Gerichtsbezirks Bakirköy in Istanbul aufgenommen hat, die zur sofortigen Verhaftung dieser Richter geführt haben. Der Gesetzesentwurf sieht außerdem vor, dass der Staatspräsident ein Viertel der Richter des Kassationsgerichtshofs für eine Amtszeit von zwölf Jahren selbst ernennt, und er erhöht außerdem das Mitspracherecht der Regierung bei der Ernennung von Richtern dieser Gerichte allgemein.

Zweifellos jedoch erlaubt es das jetzt hochkochende politische Klima der Regierung, ihre Pläne mit rasender Geschwindigkeit umzusetzen. Die Schnelligkeit, mit der die Amtsenthebungen und Verhaftungen erfolgen, legt die Existenz lang vorbereiteter schwarzer Listen nahe. All das zeigt aber auch, dass den einzelnen Richtern in aller Regel formal kein Fehlverhalten nachgewiesen werden konnte – dann wären längst Schritte unternommen worden -, sondern dass es um die Säuberung all jener geht, die nicht auf der Linie der Partei liegen.

... erschreckendes Ausmaß

Das Ausmaß der Säuberung in der Justiz ist tatsächlich erschreckend, vor allem angesichts der Tatsache, dass heute weder die Opposition noch die Presse das Handeln der Regierung auch nur beeinflussen könnten, von einer Kontrolle ganz zu schweigen. Fällt jetzt auch noch die ohnehin angeschlagene Justiz aus, ist die Selbstherrschaft von Erdogan perfekt.

Der Putsch macht auch das Ansehen des Militärs zunichte. Und dies ist wohl das überzeugendste Argument gegen die Verschwörungstheorie. Warum sollten die Militärs an ihrer eigenen politischen Entmachtung mitarbeiten? Kann man doch davon ausgehen, dass es künftig als Folge dieses Putschversuches keinen Militärputsch in der Türkei mehr geben wird. Denn erstmals in der an Staatsstreichen so reichen Geschichte des Landes ist die Polizei nicht vor Gefechten mit dem Militär zurückgeschreckt. Sie wurde im letzten Jahrzehnt kräftig aufgerüstet und verfügt heute über Spezialeinheiten, die im Kampf gegen die PKK gestählt worden sind und es mit den Wehrpflichtigen des Militärs leicht aufnehmen können. Erstmals auch mussten die Putschisten erkennen – und auch das gilt für das gesamte Militär -, dass die Medien schlicht nicht mehr kontrollierbar sind.

Und am wichtigsten: Noch nie vorher hat sich die Bevölkerung gegen die Panzer der Putschisten gestellt. Alle bisherigen Staatsstreiche wurden von der großen Masse der Bevölkerung passiv hingenommen und oft sogar begrüßt. Auch damit ist es seit dem 15. Juni 2016 vorbei. Gegen den Willen eines großen Teils einer hochpolitisierten Bevölkerung kann kein Putsch mehr erfolgreich sein. Das ist gut für die Demokratie, aber bedrohlich, wenn diese Bevölkerung nicht für die Demokratie, sondern für eine autoritäre Ideologie oder für einen "Führer" auf die Straße geht.

Konservative auf der Straße

Tatsächlich ist am 15. Juni ein neuer Akteur auf die politische Bühne getreten. Angeleitet über die Moscheen hat die religiös-konservative Mehrheit der Bevölkerung erstmals die Herrschaft über die Straße übernommen, auf der sich sonst in aller Regel nur die linke und die kurdische Minderheit zu Wort gemeldet haben. Während der Gezi-Proteste 2013 hatte Erdogan mit der Mobilisierung seiner Anhänger nur gedroht. Jetzt hat er das wahrgemacht, und ab heute kann er jederzeit zu diesem Mittel greifen. Schon ruft Seref Malkoc, einer der Chefberater Erdogans, dazu auf, Gesetze zu lockern, um die Selbstbewaffnung "des Volkes" zu erleichtern.

Ab heute steht der türkischen Opposition also nicht nur ein autoritärer Staat gegenüber. Sie muss auch damit rechnen, dass Teile der konservativen Bevölkerung direkt mobilisierbar sind. (Günter Seufert, 18.7.2016)