Bild nicht mehr verfügbar.

Staatschef Erdoğan, Freitagabend im türkischen Fernsehen.

Foto: REUTERS TV

Teile des Militärs besetzten am Freitag zentrale Orte in Ankara und Istanbul, unter anderem den Flughafen sowie die Bosporus-Brücke. Das Parlament und Recep Tayyip Erdoğans Palast in Ankara wurden bombardiert, zeitweise schafften es die Putschisten, den staatlichen Fernsehsender TRT sowie CNN Türk unter ihre Kontrolle zu bringen.

Der Putschversuch kostete mehr als 290 Menschen das Leben, von 1.400 Verletzten war am Sonntag die Rede. Schon bevor die Armee formell das Ende des Putschversuches verkündete, gab es eine Reihe von Festnahmen. 3.000 Armeeangehörige wurden festgenommen, mehr als 2.800 Richter entlassen.

Wendepunkt mit Facetime

Der Wendepunkt dürfte Erdoğans Botschaft live im Fernsehen gewesen sein. Via Facetime forderte der türkische Präsident die Leute auf, auf die Straße zu gehen und gegen die Putschisten zu protestieren. Tausende Menschen folgten seinem Aufruf. Die Ironie dabei ist, dass die Regierung ihre Anhänger derart mobilisierte – zuvor hatte sie soziale Medien unterdrückt und sich gegen Demonstrationen ausgesprochen.

Zwar schließen einige Erdoğan-Gegner eine Inszenierung des Putschversuchs nicht aus, die türkische Regierung macht jedoch ihren Erzfeind, die Gülen-Bewegung, verantwortlich. Die Gülenisten, auch bekannt als die Hizmet-Bewegung, sind eine konservativ-islamische Gruppe, die dem türkischen Prediger Fethullah Gülen nahesteht. Innert 25 Jahren hat es die Gülen-Bewegung geschafft, ihren Einfluss auszuweiten. Obwohl zahlenmäßig eine eher kleine Gruppe, hat sie großen Einfluss im In- und Ausland – auch wirtschaftlich.

Politischer Islam

AKP und Gülenisten waren einstmals enge Verbündete. Beide Organisationen sind nationalistisch und Vertreter des politischen Islam, wobei es sich bei der Gülen-Bewegung nicht um eine politische Partei handelt. Vor allem die AKP hatte nahezu gar keinen Kader in Institutionen wie Militär oder Justiz. Die Gülenisten ermöglichten der AKP den Einstieg in diese Institutionen. Im Gegenzug nahm auch die AKP Gülenisten in ihren eigenen Reihen auf. Der ehemalige Fußballspieler Hakan Sükür ist nur ein bekanntes Beispiel. Er war jahrelang Teil der Regierung und ein angesehener Parlamentarier in den Reihen der AKP.

Anfang 2012 kam es jedoch zum Zerwürfnis zwischen AKP und Gülenisten. Es gibt viele Erklärungsversuche über die Ursache dieses Schismas, doch am naheliegendsten dürfte der Streit innerhalb des türkischen Geheimdienstes gewesen sein. Die Gülenisten wurden Erdoğan zu stark, also wurden die Schulen des Netzwerkes geschlossen. Diese Privatschulen waren von großer Bedeutung für die Finanzierung der Gülenisten. Daraufhin veröffentlichten Gülen-nahe Twitter-Nutzer mutmaßliche Gespräche zwischen hochrangigen Politikern und Geschäftsleuten in der Türkei. Dies führte zum größten Korruptionsskandal der türkischen Geschichte. Die Verbindungen gingen bis hin zu Erdoğans Familie. Dies war der "Point of no Return", eine Hexenjagd gegen die Gülenisten begann. Zahlreiche Polizisten, Journalisten, Militärs und Staatsanwälte wurden verhaftet, versetzt oder ihres Amtes enthoben. Eine Gülen-nahe Bank, Fernsehsender und die auflagenstärkste türkische Zeitung "Zaman" wurden unter staatliche Kontrolle gestellt. Auch die Diktion gegenüber den Gülenisten änderte sich. Zunächst wurde die Bewegung als Parallelstaat bezeichnet, seit Mai sogar als "FETÖ" (Fetullahistische Terrororganisation).

Das offizielle Narrativ – und Verschwörungstheorien

Die Regierung hält die Gülenisten für die Drahtzieher des Militärputsches. Aber auch viele regierungskritische Journalisten teilen diese Meinung. In der Tat gibt es einige Indizien, die in diese Richtung deuten. Die Gülen-Bewegung ist etwa dafür bekannt, Organisationen wie das türkische Militär teilweise unterwandert zu haben. Zudem dürfte am Putsch keine große Gruppe von Soldaten beteiligt gewesen sein. Außerdem sprachen sich alle oppositionellen Parteien gegen den Putsch aus – auch die Oppositionspartei CHP, die in der Vergangenheit den teilweise noch vorhandenen säkularen Teilen der Armee als sehr nahestehend galt. Die Säkularen haben sehr unter der Verfolgung durch gülenistische Richter gelitten. Schließlich dürften sich auf der Verhaftungsliste einige Gülen-nahe Mitglieder des Militärs befinden.

Dennoch gibt es Zweifel an dieser Erklärung. Zum einen müssten die Gülen-nahen Mitglieder innerhalb des Militärs durch den Rachefeldzug der Regierung sowieso schon sehr geschwächt worden sein. Und es kommt hinzu, dass sich nahezu alle Gülenisten und der Bewegung nahestehende Personen sehr früh öffentlich gegen den Putsch gestellt haben. Die Putschisten dürften auch schlecht organisiert gewesen sein, sie hatten zum Beispiel gar keinen Social-Media-Plan. Dabei sind die Gülenisten eigentlich dafür bekannt, Social Media gut nützen zu können.

Erdoğans Popularität

Laut einer Statistik des Politologen Ian Bremmer war die Popularität Erdoğans zuvor am Sinken. Der Putschversuch dürfte seine Macht nun noch mehr verfestigen und das Präsidialsystem – das zuvor mehrheitlich von der Bevölkerung abgelehnt wurde – jetzt mehr Zustimmung bekommen. Und die Türkei dürfte noch weiter in den Sumpf des Autoritarismus rutschen.

Auch die Beziehungen zu den USA könnten sich ändern, da Fethullah Gülen in Pennsylvania lebt und die türkische Regierung dessen Auslieferung durch die USA fordert. US-Außenminister John Kerry kündigte an, mit der Regierung zusammenarbeiten zu wollen, und verlangte gleichzeitig nach konkreten Beweisen. Sowohl US-Präsident Barack Obama als auch die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton haben sich – spät, aber doch – auf die Seite Erdoğans gestellt. Dies dürfte wiederum den Druck auf die Gülenisten erhöhen. (Tuna Bozalan, 18.7.2016)