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Der Putschversuch hat in Istanbul und Ankara Spuren hinterlassen: In der Nähe des Präsidentenpalasts sind ausgebrannte Fahrzeuge auf den Straßen zu sehen.

Foto: Hussein Malla / AP / picturedesk

Es ist ein Bilderbuchsonntagmorgen – ein Tag, der warm und hell beginnt und unendlich ruhig, was eine Kostbarkeit in der Millionenmetropole Istanbul ist. Rennradfahrer strampeln im Pulk die Uferstraße von Bostanci nach Pendik hinunter, Pensionisten bringen auf der Promenade ihren Powerwalk hinter sich, zwei Stadtbedienstete mähen den ohnehin penibel gestutzten grünen Mittelstreifen des Boulevards, hier im asiatischen Teil Istanbul. Gäbe es nicht diese seltsamen Botschaften auf den Leuchtanzeigen über den Fahrbahnen, wäre alles so normal. "Danke Türkei", steht da anstelle der Stauberichte, oder "Die Demokratie hat gewonnen".

Burak, der Hauswart, ist zufrieden, er strahlt nach diesem Spuk, der das Land heimgesucht hat. Eine Nacht und einen Morgen Krieg und gesetzloser Mob. "Die ganze Türkei ist zusammengestanden", sagt Burak und hakt die Finger seiner beiden Hände ineinander, damit es aussieht wie eine Kette. "Wir sind wie eine Familie, wenn es darauf ankommt", behauptet er. Spricht der Hauswart über Tayyip Erdoğan, kommt er ins Schwärmen. "Ein großer Führer! Mit ihm haben wir den Putsch kaputtgemacht."

Selbstjustiz an Putschisten

161 Menschen starben auf der Regierungsseite, die meisten von ihnen, 114, waren Zivilisten, so steht es in den türkischen Zeitungen am Sonntag; 104 Putschisten kamen ums Leben, manche sollen in einem Akt von Selbstjustiz totgeprügelt worden sein. 1.440 Menschen wurden bei den Schusswechseln und Bombardierungen in Istanbul und Ankara verletzt.

Burak war wohl nicht wirklich dabei, als Erdoğan Freitagnacht die Türken zur Gegenwehr aufrief. In Moda, wo er seine Anstellung als "kapici", als Hauswart, hat, ging Freitagabend niemand auf die Straße. Zumindest nicht, um sich den putschenden Soldaten entgegenzustellen, wie es der Staatschef verlangte und die Imame aus den Lautsprechern der Moscheen. "Geht für Allah auf die Straßen!", riefen sie pausenlos.

Hochburg der alten Kemalisten

Doch Moda, im asiatischen Teil Istanbuls, ist immer noch ein wenig eine Hochburg der alten Kemalisten, der Anhänger des säkularen Staatsgründers Kemal Atatürk, aber mittlerweile auch das Boboviertel Istanbuls, wo eine besser verdienende Mittelschicht lebt und auf Bionahrungsmittel achtet.

In Moda gibt es nur zwei Moscheen, aber einen großen Teegarten an einem Hang über der Uferpromenade. Ein angenehm leichter Wind weht vom Marmarameer herauf. Man rührt in den Teegläsern und unterhält sich über das eine große Thema, den Putsch. Und über den Mann, der nun eine neue Verhaftungswelle über die Türkei rollen lässt. Rund 6.000 Festnahmen sind es bereits: Militärs, aber auch hohe Richter, Staatsanwälte, Journalisten. An allen Tischen scheint es Zweifel zu geben.

Die Verschwörungstheorie

"Ich glaube, es war gestellt", sagt eine junge Türkin, "dieser Putsch war inszeniert, und wenn Sie mich fragen: Erdoğan hat es getan." So geht die Verschwörungstheorie, die in der Stadt wie anderswo nun die Runde macht. "Es war so anders als der Staatsstreich 1980, wie ihn mir meine Eltern erzählt haben", sagt die 22-jährige Frau: "Wir haben eine so starke Armee, und dieser Putsch war innerhalb von vier Stunden vorbei."

Die Tischnachbarin, die älter ist, pflichtet bei. Einen Putsch macht man anders, sagt sie. Ihr Onkel habe erklärt, wie sich das 1980 und bei den Staatsstreichen davor zugetragen hat – mitten in der Nacht nämlich und nicht am Freitagabend, wo die Leute ausgehen. "Und man nimmt als Erstes die Politiker fest und besetzt nicht irgendwelche Brücken und Gebäude."

"Kein Zusammenhang mit der Armee"

Selin, wie die Frau im Teegarten heißt, ist in Nürnberg geboren und spricht nicht so schlecht Deutsch. Die Familie kommt aus Sinop, einer Halbinsel am Schwarzen Meer, und dort ist schon das nächste Problem. Auch die Gouverneurin von Sinop, eine der ganz wenigen Frauen in diesem Amt in der Türkei, ist gleich nach dem Putsch am Samstag entlassen worden. "Kein Zusammenhang mit der Armee", sagt Selin empört, "jetzt werden nur alle ausgetauscht, die nicht ganz auf Erdoğan-Linie sind."

Dann sagt sie einen schlimmen Satz: "Diejenigen, die bei diesem Putsch gestorben sind, sind für Erdoğan gestorben, nicht für die Demokratie."

Lange Liste der verhafteten Putschisten

Im Radio verliest eine tiefe Männerstimme im Zuchtmeisterton die Namen der verhafteten angeblichen Putschführer. Es ist eine lange Liste: sieben Generäle, 31 Oberste; der Kommandant der Zweiten Armee Adem Huduti führt sie an. Der Taxifahrer schnalzt mehrfach missbilligend mit der Zunge. Er kann es nicht glauben. Wie konnten die Armeeführer nur gegen ihr eigenes Land vorgehen? Der Wagen saust hinunter auf die breite Auffahrt zur Bosporusbrücke nach Europa. Linkerhand wird gerade der letzte der Putschistenpanzer auf einen Tieflader der Armee gezogen. Es ist kurz nach elf Uhr am Vormittag. 36 Stunden ist der Putschversuch schon alt. Auf den beiden Brücken über den Bosporus hatte er Freitagnacht begonnen.

Tayyip Erdoğan, der autoritär regierende Staatschef, scheint seither nur noch machtbewusster zu werden. Einen "Segen Gottes" hat er diesen Putsch genannt, der ihm neuerliche Säuberungen in der Armee und der Justiz erlaubt. Selbst über die Wiedereinführung der Todesstrafe spricht er. Die Türkei hatte sie 2002 abgeschafft, als sie Beitrittskandidat zur EU werden wollte. (Markus Bernath aus Istanbul, 17.7.2016)