Nizza/Wien – Es ist mittlerweile wie das Amen im Gebet: Nach einem Anschlag tauchen innerhalb kürzester Zeit Videos auf Social Media Plattformen auf, die das eben erst Geschehene in drastischster Weise zeigen. Auch einzelne Medienvertreter retweeten die Videos und sorgen so für die Weiterverbreitung. "Allzu große Publizität spielt den Terroristen in die Hände", warnte Medienpsychologe Peter Vitouch am Freitag.

Der Anschlag von Nizza mit mehr als 80 Toten zeigte innerhalb kürzester Zeit das ganze Dilemma. Ein Zeuge zückte, unmittelbar nachdem der Attentäter mit seinem Lkw durch die Menschen gefahren war, sein Handy und filmte die Opfer: Menschen in ihrem eigenen Blut in grotesk verrenkten Körperhaltungen, dazwischen verzweifelte Helfer auf der Suche nach Lebenszeichen bei den am Boden Liegenden. "Bild"-Chefredakteurin Tanit Koch retweetete noch in der Nacht das Video und löschte es erst nach heftiger Kritik in sozialen Medien.

ARD-Reporter Gutjahr filmte mit

Der ARD-Reporter Richard Gutjahr stand auf dem Balkon seines Hotelzimmers, als der Lkw vorbeifuhr. Weil ihm das sehr ungewöhnlich vorkam, begann er den Vorfall, Sekunden bevor die ersten Schüsse fielen, zu filmen. Er filmte ebenfalls, nachdem der Lastwagen durch die Menschenmenge gerast war, schickte aber das gesamte Material an die Redaktion des WDR. Er haben sich bewusst dafür entschieden, die Fotos und Videos nicht auf sozialen Plattformen zu posten, sagte er in einem Interview mit "Spiegel.de".

Für den Medienpsychologen Vitouch ist die Sache klar: "Der Horror wird durch soziale Medien weiterverbreitet", sagte er im APA-Gespräch. Das vergrößere die Angst und Phobie und führe zu politischen Folgen. "Es ist der erste Reflex, dass Schuldige gesucht werden und generalisiert wird. Das ist auch das, was die Terroristen wollen, die Gesellschaft zu destabilisieren und nach rechts zu rücken." Es sei schwierig, besonnen zu reagieren.

Nachahmungen befürchtet

Abgesehen davon, hätten die Videos auch Auswirkungen auf die Täterseite: "Von der medientheoretischen Seite wäre es richtig, dass solchen Bilder und Videos medial nicht transportiert würden", sagte Vitouch. "Das geht in der heutigen Zeit aber nicht." Es bestehe natürlich die Gefahr, dass sich Gesinnungsgenossen durch die Aufmerksamkeit, die ein Attentäter erzeugt, zu weiteren Attacken motiviert werden, was den Terroristen unter anderem bei der Rekrutierung in die Hände spiele. "Es wäre wesentlich, dass man der Person des Attentäters möglichst wenig Aufmerksamkeit widmet", betonte Vitouch.

Der Medienpsychologe empfahl, dass die Behörden die Weitergabe persönlicher Daten des Täters reduzieren, damit er nicht ein Idol für Nachahmungstäter werde. Das wäre sogar relativ einfach: "Die Identität ist nur der Polizei bekannt. Das kann man sicher restriktiv handhaben", sagte Vitouch. Der mediale Druck, der dann kommen würde, wäre auszuhalten. "Das kann man ja erklären, wie ich es gerade getan habe."

Erfahrungen der Medien

Posten oder nicht posten: Das ist eine Frage, die von Medienseite her noch nicht ausdiskutiert wurde, sagte Social Media-Expertin Judith Denkmayr. "Von meiner Seite her hat Richard Gutjahr das Richtige gemacht." Medien hätten Erfahrungswerte damit.

Soziale Netzwerke – Facebook, Twitter, Snapchat etc. – haben aber ganz andere Dimensionen eröffnet: "Es gibt aber Millionen Menschen, die Medien machen können", erläuterte Denkmayr im APA-Gespräch. Letztlich geht es um die Frage, wie Medien damit umgehen. Einige würden sich genötigt sehen, beim geposteten Grauen der Anschläge mitzugehen. Ethikgrenzen gäbe es nicht.

Für Denkmayr läuft es letztlich auf folgende Fragen hinaus: "Wie viel Freiheit können wir ertragen? Was ist uns wichtiger?" Ist die Freiheit des Netzes wichtiger? Oder sind Schutz und Sicherheit wichtiger? Und wollen wir, dass Firmen wie Facebook, Twitter und Co. entscheiden, was gesehen werden darf und was nicht?

Melde-Buttons

Denkmayr zufolge gebe es natürlich die Möglichkeit, dass die Social Media-Plattformen anders gestaltete Melde-Buttons entwickeln. Auch Aufklärungskampagnen seien wünschenswert. So kam beispielsweise auch das Thema Hasspostings aufs Tapet. Allerdings: "Im Unterschied zu Hasspostings ist das Veröffentlichen vom Videos nicht strafbar", räumte die Expertin ein.

Denkmayrs Conclusio: Zur Frage des Veröffentlichens oder Nicht-Veröffentlichens bzw. gesetzlicher Restriktionen gebe es "keine einfachen Lösungen". Oder es gebe gar keine, und wenn doch, hätte dies wohl grobe gesellschaftspolitische Auswirkungen. Die Einschränkung der Pressefreiheit wäre nur eine. Denkmayr brachte Aristoteles ins Spiel, dem der Satz zugeschrieben wird: "Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave." (APA, 15.7.2016)