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In Richmond, der Hauptstadt Virginias, wurde eine Polizeistatue beschmiert und Gerechtigkeit für Alton Sterling gefordert. Der 37-jährige Schwarze wurde am 5. Juli in Baton Rouge von Polizisten erschossen. Danach kam es zu Massenprotesten und den tödlichen Schüssen auf Polizisten in Dallas.

Foto: AP / Bob Brown

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Ein Demonstrant in Baton Rouge vor ziemlich vielen Polizisten.

Foto: REUTERS/Shannon Stapleton

STANDARD: Kann man zu Recht behaupten, dass Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA zugenommen hat?

Finzsch: Das täuscht, es ist ein Problem, das bereits in den vergangenen 100 Jahren deutlich hervorgetreten ist. Aufgrund der verstärkten medialen Aufmerksamkeit und der sozialen Netzwerke wirkt es wie eine Zunahme. Dazu muss man sagen, dass offizielle Zahlen dazu nicht vorliegen, weil die Polizei in den USA dezentral organisiert ist und es deshalb keine landesweiten Statistiken gibt.

STANDARD: Wo hat diese Entwicklung seinen Ursprung genommen?

Finzsch: In der Sklaverei und in dem System, das nach der Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten etabliert wurde: eine Form der Lohnknechtschaft, die die Sklaverei ersetzt und die Afroamerikaner politisch, sozial und kulturell in einer untergeordneten Position gehalten hat. Dafür wurde auch Gewalt eingesetzt, und da spielte Polizeigewalt eine entscheidende Rolle. Die Exekutive griff immer zugunsten jener ein, die diese Form alltäglicher sozialer Kontrolle praktiziert haben.

STANDARD: Seit der Abschaffung der Sklaverei gab es zahlreiche Massenproteste von Schwarzen, wie auch zuletzt in Baton Rouge. Welchen Einfluss hatte das auf die Lebensverhältnisse der Schwarzen?

Finzsch: Die Proteste in den 1950er-Jahren und vor allem 1960er-Jahren haben de jure zu einer Gleichstellung von Weißen und Afroamerikanern geführt. De facto hat sich wenig geändert, vor allem unter den Bedingungen einer neoliberalen, kapitalistischen Gesellschaft, in der die gesellschaftliche Position immer stärker von ökonomischen Faktoren abhängig ist. Das heißt, man braucht gar nicht das Instrument des offenen Rassenhasses, sondern kann das über wirtschaftliche Faktoren herstellen: Einkommen, Wohnsituation, Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes, Sozialpolitik. Das bedeutet, dass der Rassismus trotz der juristischen Gleichstellung stärker ist als je zuvor, gerade weil er verschleiert als ökonomisches Problem auftritt.

STANDARD: Betrifft Rassismus dann vor allem sozial schwächere Schwarze?

Finzsch: Es betrifft sie mehr. Die schwarze Mittelklasse konnte sich dem Ganzen entziehen, indem sie in die Vorstädte gezogen ist. Dort gibt es zwar auch Probleme, weil die Weißen dort ungern schwarze Nachbarn haben, aber die Lebensbedingungen sind deutlich besser als in den Ghettos der Städte. Trotzdem gibt es eine Hypersegregierung, die in den Vereinigten Staaten in den 1950er-Jahren eingesetzt hat: Afroamerikaner werden viel stärker getrennt von weißen Nachbarn, weißen Arbeitgebern, weißen Communities. Das führt dazu, dass es verstärkt zu schwarzen Nebengesellschaften kommt.

STANDARD: Welche Rolle spielt Rassismus in Polizei und Justiz?

Finzsch: Die Verurteilungsrate bei Polizeiübergriffen liegt bei etwa zwei Prozent. Das betrifft zwar sowohl Gewalt gegen Schwarze und Weiße, doch bei den vorhandenen Statistiken sieht man deutlich, dass das Schwarze weit häufiger betrifft. Überhaupt gibt es bei Schwarzen in den USA eine sechsmal höhere Wahrscheinlichkeit, verhaftet zu werden und eine zehnmal höhere Wahrscheinlichkeit, verurteilt zu werden.

STANDARD: Welche Auswirkungen können nun die tödlichen Schüsse eines Schwarzen auf weiße Polizisten in Dallas haben?

Finzsch: Eines ist sicher: "Black lives matter" wird es in Zukunft sehr schwer haben. Sprach man sonst von Einzeltätern, wird nun die Organisation ins Visier genommen. Wir haben schon die Konsequenzen kurz nach Dallas gesehen, als es große Polizeieinsätze mit Panzerwagen gegen Demos von "Black lives matter" gab. Außerdem hatte US-Präsident Barack Obama keine Wahl mehr und musste sich, wie man bei seiner Rede bereits gemerkt hat, auf die Seite der Polizisten stellen. Das könnte zu einer Art Freifahrtschein für die Exekutive führen. Man kann sagen: Um Polizeigewalt zu beenden, war Dallas der denkbar schlechteste Weg.

STANDARD: Welchen Stellenwert hat "Black lives matter"?

Finzsch: "Black lives matter" hat es verstanden, geschickt eine Kampagne zu führen, die nicht militant ist und stark darauf abzielt, weiße Unterstützer zu gewinnen. Und die Kirchen sind auch stark darin involviert. Sie sind medial präsent und lassen sich nicht provozieren. Nach den Schüssen in Dallas wird das aber alles ganz anders sein. Außerdem gibt es das gleiche grundsätzliche Problem wie bei Protestbewegungen in den 1960er-Jahren: Die Botschaft ist angekommen, aber wie soll es jetzt weitergehen? Wie soll das praktisch umgesetzt werden? (Kim Son Hoang, 15.7.2016)