Beharrlichkeit, Scheu vor großen Gesten, Detailfreude, Verhandlungssicherheit: Dass Theresa May mit diesen Attributen Wahlkampf für sich gemacht hat, kann wenig überraschen. Nichts hat das Land in den Monaten des Abstimmungskampfes und in den Wochen seit der historischen Brexit-Entscheidung stärker vermisst. All jene, die fahrlässig oder mutwillig Großbritanniens Verhältnis zu seinen geografisch nächsten Verbündeten beschädigt haben, traten den Rückzug an: von der Niederlage gezwungen Premier David Cameron; siegestrunken der Nationalpopulist Nigel Farage; von den Parteifreunden abserviert sowie an unübersehbarer Inkompetenz gescheitert die Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson, Michael Gove und Andrea Leadsom.

Seit dem Morgen des 24. Juni segelte Großbritannien durch den dichten Nebel der selbstgemachten Verfassungskrise. Mit Mays Amtsantritt als Premierministerin herrscht noch nicht gerade klare Sicht auf die nächsten Monate. Aber das Schiff dürfte zumindest in ruhigere Gewässer segeln, ehe sich die 59-Jährige und ihr Team auf die nächste Etappe begeben.

Wie sehr May auf Ausgleich und Kontinuität zur Cameron-Regierung setzt, der sie seit 2010 als Innenministerin angehörte, lässt sich an ihrer Kabinettsliste ablesen. Auf jeden Fall tritt die zweite konservative Regierungschefin deutlich anders auf als die erste: Margaret Thatcher (1979-1990) umgab sich lange Jahre nur mit Männern, für ihre Geschlechtsgenossinnen tat sie nichts. May hat auf Frauenförderung gesetzt, ihre Regierung dürfte stark weiblich geprägt sein. Zudem hat sie eine Abkehr vom Klüngel der privilegierten, auf Privatschulen erzogenen Großbürger- und Kleinadelssöhne à la Cameron und Johnson versprochen.

May muss als Erstes für Ruhe sorgen, die Brexit-Verhandlungen in die Wege leiten, die ungeklärte Situation der EU-Bürger im Land klären, die proeuropäischen Schotten befrieden. Ihre Partei wird ihr dafür in den kommenden Monaten den Rücken freihalten.

Instinktiv haben sich Liberalkonservative und Nationalisten, EU-Freunde und -Feinde, Männer und Frauen um ihre neue Parteichefin geschart. Damit machen die Tories ihrem Ruf als Partei unbedingten Machterhalts alle Ehre.

Dieser Pragmatismus kontrastiert mit dem trostlosen Zustand der Labour Party. Die konservative Regierung bedarf in der Krise einer schlagfertigen, selbstbewussten Opposition, doch die Sozialdemokraten verweigern sich dieser extrem wichtigen Rolle komplett.

Parteichef Jeremy Corbyn hat in seiner zehnmonatigen Amtszeit interessante inhaltliche Impulse gegeben, zu Recht die soziale Ungerechtigkeit und das Sparprogramm der Tories angeprangert. Zu effizienter Führung ist der Linksradikale im Pensionistenalter nach 32 Jahren Hinterbänklertum aber nicht fähig. Obwohl ihm 80 Prozent der Unterhausfraktion die Gefolgschaft verweigern, tritt Corbyn nicht zurück. Und den Rebellen gelingt es nicht, sich auf eine glaubwürdige, versöhnende Kandidatin zu einigen.

Die Konservativen haben sich nach anfänglichem Schlingern binnen 17 Tagen um die neue Chefin geschart. Labour will nun die Zeit bis Ende September mit parteiinternem Wahlkampf verbringen, aus dem Corbyn erneut als Sieger hervorgehen dürfte. Linkes Sektierertum triumphiert über staatspolitische Verantwortung: Die Briten werden das nicht vergessen. (Sebastian Borger, 13.7.2016)