Touristen sind ja die anderen. Prinzipiell, immer – und überall auf diesem Planeten. Das ist ein bisserl so wie im Stau: Wenn man mittendrin steckt, sollen sich die anderen gefälligst dematerialisieren – und zwar subitissimo. Aber dass man nicht einfach "im Stau steckt", sondern eben "der Stau ist" … egal. Selbstwahrnehmung ist ein weites Feld – und deshalb sind immer nur die anderen Touristen.

Foto: Thomas Rottenberg

Ganz abgesehen davon: Ich bin ja wirklich kein Touri. Beinahe. Jedenfalls kann ich, ohne rot zu werden, behaupten, dass ich in Salzburg hin und wieder arbeite. Dass das in der Regel nach der Methode "Nachmittagszug hin – Job – Spätabendzug zurück" abläuft, muss ich ja nicht laut sagen. Und wenn ich dann doch mal in Salzburg übernachte, weil es ausnahmsweise am Tag danach auch etwas zu tun gibt, kann ich mit Fug und Recht sagen, kein Tourist zu sein.

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Mein Verhältnis zu Salzburg ist ambivalent. Höflich gesagt. Natürlich erkenne ich die Schönheit der alten Stadt. Das Malerische. Das Romantische. Das Hier-steht-die-Zeit-still-Dings. Natürlich weiß ich, wie wichtig Salzburg historisch war und ist. Musikhistorisch sowieso. Und natürlich weiß ich auch, dass die Gesetze des Fremdenverkehrs bedingen, dass man mit Begriffen wie "dezent", "geschmackvoll" und "unique" um sich wirft, um genau das Gegenteil zu tun: Von kleinen Boutique-Pensionen, urigen Retro-Almen und exquisiten Ein-Mann/Frau-Handwerksklitschen kann keine Volkswirtschaft leben. Und der Balanceakt zwischen Totalausverkauf von Identität und Heimat, Komplettverkitschung von allem & jedem und dem, was gerade noch als erträglich durchgeht, ist unmöglich zu meistern.

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Schon allein deshalb, weil meine Schmerzgrenze da wohl ganz woanders liegt als Ihre. Vermute ich mal. Und ich mir der meinem Standpunkt inhärenten, gleich mehrfachen Verlogenheit sehr wohl bewusst bin: Ich lebe vom Tourismus. Mittelbar – als Bürger dieses Staates. Aber auch unmittelbar – als Schreiber über Reisen ebenso wie – das ganz besonders – in meinem "offiziellen" Hauptjob. Sich dann über das Urlaubsverhalten von Massen zu echauffieren wäre unredlich. Und ein Schuss ins eigene Knie. Aber trotzdem: Touristen sind immer die anderen – und wenn ich reise, will ich keine sehen. So wie Sie ja auch.

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Dass das in Salzburg aber tatsächlich funktionieren kann, hätte ich eigentlich nicht geglaubt. Nicht im Hochsommer. Also zu Beginn der Hauptsaison. Kurz vor den Festspielen: Ein Bild von Mozarts Geburtshaus bei Tageslicht ohne einen einzigen Menschen, der da mit Kamera oder Stadtplan herumsteht, schafft man sonst eigentlich nur, wenn man die Straße absperren lässt. Und die Gopro unbeaufsichtigt (und auf Auto-Dauerfeuer gestellt) einfach hinzulegen und ein paar Mal auf und ab zu rennen würde ich tagsüber nicht wirklich empfehlen.

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Die Getreidegasse meide ich tagsüber eigentlich. Aus guten Gründen. Im Sommer geht es hier tagsüber oft – eher: meist – zu wie am dritten Weihnachtseinkaufssamstag gegen 16 Uhr auf der Mariahilfer Straße in Wien. Dass es da um sieben Uhr morgens nicht ganz so voll sein würde, hatte ich erwartet. Aber unter einer oder zwei asiatischen Reisegruppen würde es wohl nicht abgehen.

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Irrtum. Die Gasse, die ich eigentlich nur hatte queren wollen, war de facto menschenleer. Hatten entlang der Salzach, auf der Uferpromenade, noch Horden von Radfahrern auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule (es war Freitag, also Zeugnisverteilungstag) gezeigt, dass es in Salzburgs Zentrum auch andere als tourismusverbundene Erscheinungsformen menschlichen Lebens gibt, war hier nun einfach nichts los. Nix. Nada. Eine einzige einsame Läuferin kam mir entgegen – und da realisierte ich etwas, was ich anderswo schon lange nicht mehr erlebt hatte.

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Natürlich waren da Läuferinnen und Läufer unterwegs gewesen. Aber verglichen mit dem, was ich in anderen Städten – die, was Größe und Umgebungslandschaft angeht, durchaus mit Salzburg vergleichbar sind – als Morgenlaufnormalität kenne, war hier auffallend wenig Laufverkehr. Obwohl: Das ist natürlich eine Momentaufnahme. Kann ein einmaliger Zufall sein – und an allen anderen Tagen (oder nur drei Minuten früher oder später) steppt hier der Morgenlaufbär …

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Das Gute an fremden Läufern in fremden Gegenden ist unter anderem, dass man ihnen einfach nachtrotten kann. Mit einem bisserl Übung ist es ja nicht wirklich schwierig zu erkennen, ob die Gestalt vor einem durch die Gegend irrt oder genau weiß, wohin es geht. Und an Laufstil, Tempo und ein paar anderen Kleinigkeiten kann man dann oft auch in etwa abschätzen, ob das, was der Kollege oder die Kollegin da hinlegt, für einen selbst tödlich enden wird oder doch auch Spaß verspricht.

Ich jedenfalls sah auf der Kaigasse einen Läufer nach rechts auf die Treppen abbiegen – und lief ihm einfach nach: Wenn die Innenstadt leer war, würde am Nonnberg und auf der Festungsgasse wohl auch keine Touri-Slalom auf mich warten.

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Und bingo! Natürlich war da genau gar niemand. Und der Blick Richtung Nonntal war hammerschön. Ich war, glaube ich, überhaupt noch nie hier oben gewesen. Nicht auf dieser Seite. Jedenfalls nicht, seit ich die Entscheidungen über meine Reiseziele selbst treffe: Als Kind war ich bestimmt schon hier gewesen. Schließlich war das Kennenlernen dessen, was Österreich ausmacht, ein zentraler Punkt meines Aufwachsens in einer typischen Lehrerfamilie gewesen. Salzburg hatte ich da unter Garantie mehrfach erlebt. Mit Geschichte, Jahreszahlen und Geschichterln – und auch wenn ich damals raunzte: Davon profitiere ich bis heute. Nur das "Wir nehmen keine Standseilbahn, wir gehen, solange es geht, zu Fuß, weil man da viel mehr sieht"-Dogma werde ich meinen Eltern wohl nie ganz verzeihen.

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Was ich und mein Bruder zum Glück nie mussten: uns für die Schule aufbrezeln. Lehrer-Eltern haben, wenn sie ihren Job pädagogisch ambitioniert und engagiert, aber mit Augenmaß machen, im Vergleich zu anderen Eltern zwar etliche Nachteile, aber auch ein paar ganz gewaltige Vorteile: Unter anderem wissen sie, wie Schulnoten zustande kommen. Und wie relativ und subjektiv und de facto daher meist irrelevant in der Volksschule alles zwischen "sehr gut" und "genügend" ist, weil Bewertungskriterien von Klasse zu Klasse und von Lehrer zu Lehrer komplett unterschiedlich sein können.

Auf die Idee, uns für die Zeugnisverteilung dann in Hemd und Anzug zu stecken und uns am letzten Schultag, also zu Sommerbeginn, auch noch Krawatten umzubinden, wären sie nie gekommen. Wobei: Manche Kinder wollen das ja auch von sich aus. Angeblich.

Foto: Thomas Rottenberg

Abgesehen von den beiden Buben auf dem Weg zur Schule war ich hier oben in der Festungsgasse auf dem Weg vom Stift Nonnberg hinüber zum Festungseingang vollkommen allein. In Salzburg. Im Sommer. Zu Beginn der Hauptsaison. An einem der zentralen und wirklich leicht erreichbaren Über-die-Stadt-Blick-Punkte – und beim allerbesten Morgenlicht.

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Genau genommen hätte ja auch ich nicht hier sein dürfen: Meine "Lauffreigabe" von Trainerin, Arzt und Physiotherapeut umfasst nämlich Laufvolumina, bei denen ich noch vor ein paar Monaten nicht einmal daran gedacht hätte, die Laufschuhe überhaupt anzuziehen. Und so wirklich passen Treppen, Stufen und Steigungen auch nicht zur Vorgabe "flach". Nur: Mir und meinen Wehwehchen geht es mittlerweile halbwegs okay. Die wichtigste Ansage "Erlaubt ist alles, was nicht wehtut" befolge ich strikt, strikter, am striktesten. Drum lassen mir meine Experten diese Kleinsteskapaden mittlerweile auch durchgehen: Der Unterschied zwischen erlaubten vier und gelaufenen fünf Kilometern ist bei dem Tempo, mit dem ich unterwegs bin (Geschwindigkeitskategorie: Kontinentaldrift) ja ohnehin kaum relevant.

Foto: Thomas Rottenberg

Außerdem: When in Rome, do as the Romans – und wenn ich schon in Salzburg laufe, will ich zumindest in der Nähe der Festung vorbeikommen. So viele Stufen sind das in Wirklichkeit nämlich gar nicht. Und: mit ohne Touristenhorden …

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Wenn man schon die "klassische" Salzburg-Kiste im Sommer aufmacht, kommt man aber an einem Punkt schlicht und einfach nicht vorbei: den Festspielen. Die beginnen zwar erst am 22. Juli, aber die Vorbereitungs- und Aufbauarbeiten laufen natürlich schon jetzt auf Hochtouren. Meine Salzburger Freunde und Bekannten wissen das auch sehr gut: Wer kann und halbwegs zentral wohnt, flüchtet jetzt aufs Land. Weniger wegen des Trubels als um Geld zu verdienen: Salzburg ist ein sauteures Wohnpflaster. Aber mit dem Einquartieren von Festspielvolk jedweder Art lassen sich die eigenen Wohnkosten im Jahresschnitt ein wenig reduzieren. Nicht ganz so toll wie – nur zum Beispiel – in Davos während des Weltwirtschaftsforums, aber durchaus signifikant. Auch wenn man da natürlich nie offen drüber spricht. Diese Kiste bleibt gut verschlossen.

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Eines der für mich faszinierendsten Salzburg-Spezifika ist ja die mediale und kulturpolitische Fixiertheit auf den "Jedermann". Nix gegen Hugo von Hofmannnsthals Mysterienspiel, seine Geschichte, seine Moral und – das schon gar nicht – Inszenierung und Darstellerinnen und Darsteller: Hier tritt die erste Garnitur an.

Nur: Am Ende des Tages und in der Substanz ist der "Jedermann" halt trotz allem ein recht biederes Stück Bauerntheater. Und verhält sich gegenüber vielem, was bei den Festspielen rundum oft an Großem, Innovativem und Spannendem passiert, in etwa so wie der Dreschflegel zum Florett. Freilich: Das Klare, Geradlinige und Schlichte versteht halt auch jener Teil der Polit- und Adabei-Prominenz, die zur Festspielzeit über Salzburg kommt und ausschließlich wegen des Gesehenwerdens und eher gar nicht wegen des Sehens hier ist.

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Ich war – noch als Society-Schreiber – einmal Besucher der "Jedermann"-Premiere hier auf dem Domplatz. Zwischen allen Lugners aus Österreich und Deutschland, zwischen Adoptionsprinzen und Standesamtsgräfinnen, Castingshow- und Castingcouch-Sternchen von beinahe relevantem Weltruhm und beiderlei Geschlechts und Ihresgleichen, die hier versuchten, sich ein bisserl vom echten Glanz der echten Kunst- und Kulturköpfe einzufangen und dauerhaft anzupicken: Der "Jedermann" ist diesen Menschen (und der Adabei-Presse) zumutbar. Gerade noch. Alles andere würde die meisten von ihnen auf 1000 Arten überfordern.

Ganz abgesehen davon ist es aber ein echtes Vergnügen, zu sehen, was die erste Liga der deutschsprachigen Schauspieler aus einem einfachen Stück herauszuholen vermag. Ein bisserl so wie beim Neujahrskonzert – wo ja auch das beste Orchester der Welt zeigt, was "Unterhaltungsmusik" alles können kann. Alle Jahre wieder. Und das ist gut so. Genau wie der "Jedermann".

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Aber ich schweife ab. Weil Salzburg mehr ist als Festspiele. Mehr als der "Jedermann". Mehr als Mozart und Trachtenlook. Mehr als eine 150.000-Einwohner-Stadt, die mit 2,7 Millionen Touristennächtigungen pro Jahr und einem unmittelbaren Tourismusumsatz von über 800 Millionen Euro, einem Touri-Anteil am Bruttosozialprodukt von über 20 Prozent, ohne die Massen, die tagsüber die Gassen und Plätze fluten und verstopfen, schlicht und einfach nicht denkbar oder lebensfähig wäre.

Weil Salzburg vor allem noch etwas ist: ein Stück Heimat. Ein Stück Identität – mit allen Zu- und Abstrichen des österreichischen Umgangs mit der eigenen Geschichte.

Und: Salzburg ist schön. Wunderschön. Wenn man es schafft, die Stadt ohne Touristen zu erleben. Also "echt". Denn: Touristen sind ja immer nur die anderen. (Thomas Rottenberg, 13.7.2016)

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