John Turturro (links) verteidigt in "The Night Of" den Pakistani Nazir, gespielt von Riz Ahmed.

Foto: Sky/HBO

Los Angeles / Wien – Wochenlang fesselte die Journalistin Sarah Koenig 2014 mit ihrem Podcast Serial das Publikum. Die Frage, ob Adnan Masud Syed seit 1999 unschuldig im Gefängnis sitzt, beschäftigte in den USA die Massen und sorgte für die Wiederbelebung des längst totgeglaubten Mediums Podcast. Jetzt hat der Fall ein Nachspiel: Ein Gericht in Baltimore rollt den Mord an der 18-jährigen US-Studentin Hae Min Lee neu auf. Die von Koenig aufgezeigten Ungereimtheiten werden neu verhandelt. Ein Freispruch des seit 16 Jahren inhaftierten Exfreundes des Mordopfers scheint plötzlich möglich.

Die spektakuläre Wende in dem Fall stellt einen Höhepunkt in der "True Crime"-Euphorie dar, die das Fernsehen seither erfasst hat. Denn dass im Fall von Serial nicht das Medium, sondern die Geschichte den Hit schuf, verstanden Fernsehsender praktisch in der Sekunde. Als einer der ersten sprang Netflix auf den Zug auf: In Making A Murderer rollte das Streamingportal den Fall des lebenslang verurteilten Steven Avery in zehn Folgen neu auf, aufmerksam verfolgt von nach Partizipation und Austausch dürstenden Zusehern.

Das Echt bringt den Thrill

Die waren auch dabei, als etwa HBO in The Jinx von Andrew Jarecki Das Leben und die Tode des Robert Durst (Untertitel) dokumentarisch neu aufarbeitete. Als Fictionserie sorgte die Inszenierung des Verfahrens gegen O. J. Simpson für wohlige Schauer.

Das Rezept ist ungefähr dasselbe: Wie bei einem Krimi kreist es ums klassische "Whodunit". Mit dem einen Unterschied: Es ist echt und der Thrill damit umso größer.

Kritik daran ist mindestens so alt wie Aktenzeichen XY: Es gehe um die Befriedigung voyeuristischer Schaugier, Selbstjustiz und Sensationslust, lautet der Vorwurf. Nichtsdestominder reißt die Flut an "wahren" Verbrechen und Justizthrillern nicht ab. Fernsehsender verfolgen diesen nächsten großen Hype im Programm mit großem Eifer, und wenn etwas erfunden ist, muss es wenigstens so wirken, als beruhe die Geschichte auf einer wahren Begebenheit:

CBS lässt die Entführung von Patty Hearst nachstellen, die 1974 durch Vertreter der linksradikalen Symbionese Liberation Army entführt wurde, der sie sich dann anschloss. Nach einer Verhaftung wegen Bankraubs wurde sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, später jedoch begnadigt. Ebenfalls CBS dreht einen Pilotfilm über JonBenét Ramsay, die als sechsjährige zu Weihnachten 1996 entführt und ermordet wurde.

Noch immer nicht ist alles gesagt zu O. J. Simpson, findet Denise Brown, die Schwester der ermordeten Ehefrau Nicole Brown Simpson. NBC ist ebenso dran wie am Fall Lyle und Erik Menendez. Die Brüder wurden verurteilt, 1989 ihre Eltern ermordet zu haben. NBC macht daraus eine Fernsehserie für ein Spin-off der Langzeitanwaltsserie Law & Order.

Netflix verfilmt weiters den Margaret-Atwood-Roman Alias Grace. Es geht um die Geschichte der Hausangestellten Grace Marks, die 1843 angeklagt wurde, ihren Herrn und dessen Haushälter ermordet zu haben. Sechs Folgen.

Gut erfunden ist The Night Of, ab Sonntag auf HBO und den mobilen Diensten des Abosenders Sky. In der achtteilige HBO-Serie von Steven Zaillian (Schindlers Liste) und Richard Price (The Wire) verteidigt John Turturro einen jungen Pakistani, der des Mordes an einer jungen Frau angeklagt wird. Der Gerichtsthriller ist dramaturgisch wie "True Crime" aufgezogen, leidet allerdings an Defiziten bei der Glaubwürdigkeit.

Nachschub ist vorhanden, denn mittlerweile werden schon Bücher nach ihrer Eignung für "True Crime" abgefragt: Die von Justine Van Der Leun aufgezeichnete Geschichte We Are Not such Things um die tragische Ermordung Amy Biehls, einer 28-jährigen Studentin, die kurz vor dem Ende des Apartheid-Regimes in einem südafrikanischen Township von einem rasenden Mob ermordet wurde, könne gut der nächste Serienhit auf dem Gebiet sein, fand etwa vogue.com. (Doris Priesching, 10.7.2016)

Trailer: "The Night Of"

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