Vor einer längeren Sommerpause gibt Pictotop noch ein paar Lektüretipps für faule Tage. Dabei findet sich nicht nur leichte Kost, sondern auch Abgründiges, Politisches, Sportliches und Literarisches

Der Sommer ist schon in vollem Gange, aber bevor sich Pictotop in eine babybedingte Pause verabschiedet, gibt es noch einen kleinen Überblick über empfehlenswerte Comics, die sich im Pictotop-Regal angesammelt haben.

Wie immer liegt hier der Fokus auf Graphic Novels aus deutschsprachigen Verlagsgefilden, vornehmlich mit einem historischen, zeitgeschichtlichen, gesellschaftspolitischen Hintergrund.

Pictotop meldet sich wieder im Spätherbst.

Der ganz normale Urlaubswahnsinn

Es geht nichts über die Schadenfreude – besonders, wenn es darum geht, anderen dabei zuzusehen, wie sie bei dem Versuch, den perfekten Sommer zu genießen, gnadenlos scheitern und bei Pannen, Missgeschicken und anderen Katastrophen schlicht ihre Nerven verlieren. Genau das ermöglicht "Rein in die Fluten", die neueste Komposition der erfolgreichen französischen Comic-Künstler David Prudhomme und Pascal Rabaté. In ihrer rasanten Realsatire folgen sie einer Reihe von archetypischen Urlaubern einen Tag lang bei ihren Strandaktivitäten. Angefangen mit mehrköpfigen Familien in der schweißtreibenden Blechlawine, über Camping-Experten und tiefbraune Strand-Pensionisten bis hin zu Cabrio-Yuppies, schmusenden Pärchen und eitlen Schönlingen. Es wird gestritten, geflirtet, Körperkult in verschiedensten Farbastufungen zelebriert und natürlich gepritschelt, in der Sonne gebrutzelt und zwischen Sandburgen flaniert. Bissig und trotzdem mit einem gewissen Feingefühl für unser aller Marotten entwirft "Rein in die Fluten" ein farbstrotzendes Kaleidoskop des Urlaubswahnsinns. Jaques Tati mit seinem absurden Schalk und Manfred Deix mit seiner Lust am Menschelnden lassen grüßen!

Hier gibt es eine Leseprobe.

David Prudhomme/Pascal Rabaté, "Rein in die Fluten", 24 Euro / 120 Seiten, Reprodukt, Berlin 2016

Foto: Reprodukt

Krieg im Kopf: Das Anti-Sommer-Comic

Gleich vorweg: Das ist die Anti-These zum typischen Sommerbuch und somit eine gute Fluchtmöglichkeit in dunkle Abgründe für all jene, die einmal Abwechslung von Wohlfühl- und Sonnenzwang brauchen. Der gebürtige Tiroler und heute in Kassel lebende Lukas Kummer hat mit "Die Verwerfung" ein umwerfendes, wenn nicht gar niederschmetterndes Debüt geliefert. Die Geschwister Krainer – Jakob und die ältere Johanna, die sich als Bub ausgibt – ziehen Mitte des 17. Jahrhunderts durch das vom Dreißigjährigen Krieg praktisch vernichtete, zu großen Teilen entvölkerte Deutschland. Ungeheure Brutalität, Pest und Hunger lassen jedes andere Wesen zum Feind werden, Menschlichkeit und Moral sind Hindernisse auf dem Weg, der nicht mehr als dem puren Überleben dient. Mit unglaublich stilistischer Sicherheit und einer außergewöhnlichen Ästhetik zeichnet Kummer eine unprätentiöse Anti-Kriegsgeschichte, die ohne Schlachten und Helden auskommt – und einem trotzdem den Magen umdreht und so schnell nicht mehr aus dem Kopf geht. Hardcore im positivsten Sinn!

Eine Leseprobe findet sich hier.

Lukas Kummer, "Die Verwerfung", 20,60 Euro / 120 Seiten, Zwerchfell Verlag, Stuttgart 2015

Foto: Zwerchfell Verlag

Sturm und Drang: Shakespeare lebt!

Prospero, der rechtmäßige Herzog von Mailand, sitzt am Laptop in seinem Designer-Glaspalast und dirigiert den Luftgeist Ariel, der sich dann und wann per Handy oder anderer elektronischer Geräte materialisiert. Es ist Zeit, seine Tochter Miranda einzuweihen in die Geschichte, wie es die beiden auf die einsame Insel verschlagen hat, auf der sonst nur der deformierte und von Prospero versklavte Caliban lebt. Denn die Rache an jenen, die Prospero betrogen und verjagt haben, steht bevor. Der bekannte österreichische Comic-Zeichner Leopold Maurer hat "Der Sturm", ein Masterpiece aus der Feder des heuer anlässlich seines 400. Todestages besonders bejubelten William Shakespeare, als moderne Graphic Novel adaptiert. Er kombiniert die geniale Schönheit der Shakespear'schen Sprache – basierend auf der von Claus Peymann adaptierten Übersetzung von August Wilhelm Schlegel – mit kantigen Bildern, die die messerscharfe Ironie des Texts in ein absolut stimmiges Licht rücken. Schrille Farben, abstrahierte Zeichnungen und eben die Technisierung der magischen Kräfte des Prospero geben dem Macht- und Familiendrama die gebotene Absurdität. Zweifellos ein sehr gelungenes Beispiel der derzeit im Trend liegenden Literaturadaptionen im Comic-Format.

Eine Leseprobe gibt es hier. Mehr zu Leopold Maurer in der Rezension von "Kanal".

Leopold Maurer/William Shakespeare, "Der Sturm", 24,70 Euro / 160 Seiten, Luftschacht, Wien 2016

Foto: Luftschacht

Ali-Bio: Größter Superheld aller Zeiten

Er war ein wandelnder Sinnesrausch, dieser Mahammad Ali, dessen Lebenswerk und
-geschichte nach seinem Tod am 3. Juni dieses Jahres einmal mehr um die Welt gegangen ist. Ein Zufall, dass nur wenige Tage später bei Knesebeck die deutsche Fassung einer grandiosen Comic-Bio über den Champion der Champions erschienen ist. Die Illustratorin Sybille Titeux und der Szenarist mit dem wunderbaren Namen Amazing Améziane haben das rauschende Leben des tat- und wortgewaltigen Boxmeisters in eine mitreißende Bildsprache übersetzt, die durchaus neue Facetten und Blickwinkel zutage bringt. In "Du"-Form an Ali selbst gerichtet, erzählt das Buch dessen Laufbahn von Geburt an, lässt Schlüsselmomente der Politisierung genauso wie die wichtigsten Kämpfe Revue passieren, immer ganz nah dran am Geschehen. Ungestüm und doch mit einer klaren Bestimmungen – so wie Alis Charakter – wirken die Zeichnungen, die in wechselnden Stilen alle Grenzen des Comics ausreizen, mit großformatigen Panoramen bis zur flotten Panelabfolge. Der große Verdienst des Buches, der es für ein Publikum weit über Sportfans hinaus spannend macht, ist die geniale Einbettung des politischen Zeitgeschehens, mit dem Muhammad Alis Biografie so eng verknüpft war: Bürgerrechtsbewegung, Malcom X und die Nation of Islam, Nixon, Mugabe und die Black Panthers – alles wird in einen nachvollziehbaren Zusammenhang gebracht, gespickt mit Originalzitaten und Dokumenten. Fight on!

Leseprobe und Bonusmaterial bei Lelombard, dem belgischen Verlag der französischsprachigen Originalausgabe.

Sybille Titeux/Amazing Améziane, "Muhammad Ali", 25,70 Euro / 120 Seiten, Knesebeck, München 2016

Foto: Knesebeck

Vergessen: Stimmen aus Mosambik

Sie heißen José, Basilio und Anabella, sie haben eine unterschiedliche Geschichte, verschiedene Ansichten und Charaktere. Was sie eint, ist, dass sie alle aus Mosambik stammen und sich dazu bereit erklärten, Anfang der 80er-Jahre als Vertragsarbeiter in den "sozialistischen Bruderstaat" DDR zu gehen, so wie insgesamt 20.000 andere Mosambikaner, die zwischen 1979 und 1991 in der ehemaligen DDR beschäftigt waren. Birgit Weyhe erzählt in ihrem Doku-Comic "Madgermanes" anhand von drei (fiktionalisierten) Biografien, was es bedeutete, in einem völlig fremden Land als billige Arbeitskraft ausgebeutet zu werden, um nach wenigen Jahren in ein bürgerkriegsgebeuteltes Mosambik zurückzukehren, wo nicht einmal der versprochene Lohn ausgezahlt wurde. Birgit Weyhe, deren Werk heuer mit dem wichtigsten deutschsprachigen Comic-Preis, dem "Max und Moritz"-Preis für den "Besten Deutschen Comic" ausgezeichnet wurde, verbrachte selbst ihre Kindheit in Ostafrika und führte für ihr Buch umfassende Recherchen durch. Mit erdfarbenen Zeichnungen, die verschiedene Wahrnehmungsebenen eindrücklich verdichten, holt sie die vergessene Geschichte der Madgermanes (eine Wortschöpfung aus "verrückte Deutsche" und "Made in Germany") hervor – und wirft einen angenehm afrozentristischen Blick auf das untergehende sozialistische System.

Hineinlesen kann man hier.

Birgit Weyhe, "Madgermanes", 25,70 Euro / 240 Seiten, Avant Verlag, Berlin 2016

Foto: Avant Verlag

Kommunisten und Kosmonauten

Das Genre des Wendecomics ist bei deutschen Graphic Novels gerade ziemlich hip und gut vertreten, deswegen werfen wir auch hier noch einmal einen Blick auf die DDR – diesmal aus der Sicht einer Gruppe von Kindern an der Schwelle zur Jugend. Basti, Katrin und Hannes sind begeisterte Jungpioniere und träumen davon Kosmonauten zu werden. Doch langsam schleichen sich Zweifel ein in die autoritären Strukturen, in denen sie leben, bröckelt die Fassade aus schillernder Propaganda, mit der sie aufgewachsen sind. Zum Umbruch im eigenen Körper gesellt sich der einer in Staatsform gegossenen Idee, die langsam an Glaubwürdigkeit verliert. "Baikonur mon amie" ist der Erstling von Sonja Knoll und Michael Rühl und der erste Band einer auf vier Teile angelegten Geschichte. Augenfällig ist die eigenwillige Gestaltung: Die in weichen Farben gezeichnete Comic-Story wird immer wieder durch größere Textblöcke unterbrochen, die tiefer in die Gedankenwelt der Kinder führen und Hintergründe beschreiben. Leider wirkt diese Zusammenstellung oft lieblos, die Inszenierung dilettantisch – das mag auch daran liegen, das die Jungautoren ihr Comic selbst im neu gegründeten Verlag veröffentlicht haben. Trotz allem lässt einen die Geschichte nicht los, nimmt einen mit in einen Sog aus Nostalgie und Aufmüpfigkeit, der auf eine baldige Fortsetzung hoffen lässt.

Eine Leseprobe gibt es hier.

Sonja Knoll / Michael Rühl, "Baiknur mon amie", 24 Euro / 136 Seiten, Dipol-Verlag, Berlin 2016

Foto: Dipol