Er wurde geholt, um den Tanker Tui wieder auf Vordermann zu bringen und eine Strategie gegen Internetplattformen wie Booking zu entwickeln: Friedrich Joussen, Chef von 76.000 Mitarbeitern.

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STANDARD: Tourismus scheint ein Selbstläufer zu sein, die Welttourismusorganisation erwartet nach dem Rekordjahr 2015 mit 1,2 Milliarden Ankünften heuer ein Plus von fast 50 Millionen. Sie könnten sich entspannt zurücklehnen.

Joussen: Das ist keine gute Strategie. Fakt ist: In vielen Teilen der Erde entstehen neue Mittelschichten, die die Welt gerade entdecken. Wenn sich der Markt positiv entwickelt und die Menschen weiter reisen wollen, sind das gute Voraussetzungen für uns.

STANDARD: Als weltgrößter Reisekonzern sollten sie überproportional profitieren.

Joussen: Absolut, das tun wir.

STANDARD: Woran merken Sie das?

Joussen: Daran, wie viel zusätzliche Gäste mit uns in den Urlaub fahren. Auch an der Kapazitätssteigerung unserer Hotels und Kreuzfahrtschiffe zeigt sich, dass wir überproportional teilhaben. Allein im Kreuzfahrtbereich wachsen wir momentan um 28 Prozent.

STANDARD: Kreuzfahrten – die neue Form des Kluburlaubs?

Joussen: Es gibt unterschiedliche Arten von Kreuzfahrten. Einmal die in Amerika, wo es eine wesentlich höhere Marktdurchdringung gibt. US-Amerikaner fahren im Schnitt doppelt so häufig auf Kreuzfahrt wie Europäer.

STANDARD: Woran liegt das?

Joussen: Die Amerikaner haben diese Form des Reisens sehr viel früher für sich entdeckt. Sie setzen aber auch andere Prioritäten als Europäer. Kurz gefasst: Das Schiff ist dort das Erlebnis.

STANDARD: Das Ziel ist zweitrangig?

Joussen: Das Schiff muss ein kleiner Erlebnispark sein, zum Beispiel einen Roboter haben, der Drinks mixt. In Europa wollen die Menschen selbstverständlich den Komfort und den Service eines Tophotels, aber die Route steht viel stärker im Vordergrund.

STANDARD: Tui ist vergleichsweise spät in diesen Markt eingestiegen.

Joussen: Wir betreiben mit Hapag-Lloyd Cruises die älteste Kreuzfahrtgesellschaft der Welt. Mit Tui Cruises sind wir tatsächlich erst 2008 in ein neues Kreuzfahrtsegment eingestiegen. Einiges spricht dafür, dass wir uns da dem US-Niveau nähern: Die Kreuzfahrt wird deutlich jünger, Familien verteilen ihre Urlaubstage auf mehrere Reisen, insgesamt steigen die verfügbare Zeit und das verfügbare Einkommen. Deshalb investieren wir und stellen jedes Jahr mindestens ein neues Kreuzfahrtschiff in Dienst.

STANDARD: Gab es vor 2008 zu wenig Cash, in eine eigene Schiffflotte zu investieren?

Joussen: Als ich den Vorstandsvorsitz 2013 übernahm, habe ich eine Situation vorgefunden, in der die Existenz des Unternehmens nicht gesichert war. Die Firma verlor über Jahre hinweg Geld. Wir hatten eine Beteiligung von mehr als 50 Prozent an dem britischen Reisekonzern Tui Travel, die waren an der Börse mehr wert als die ganze Tui. Damit der Zusammenschluss mit Tui Travel gelingen konnte, mussten wir die Firma restrukturieren. Das ist gelungen, das Vorjahr war das beste der Firmengeschichte, mit gut einer Milliarde Euro operativem Gewinn.

STANDARD: Während des Umbaus hat es große Verunsicherung gegeben, Länderorganisationen wurden strenger an die Kandare genommen. Sind die Mitarbeiter nun wieder auf ein Ziel eingeschworen?

Joussen: Stolz auf die Firma hat viel mit Erfolg zu tun. Die Mitarbeiter wissen, dass sie heute in einem kerngesunden Unternehmen tätig sind, das wieder die Kraft hat zu investieren. Ich habe eine klare Meinung, wie eine Organisation funktionieren soll. Die großen Investitionen werden in eigene Hotels und Schiffe getätigt. Über das Veranstaltergeschäft sorgen wir dafür, diese auszulasten. Derzeit haben wir rund sieben Millionen Kunden in unseren eigenen Hotels, aber rund 20 Millionen insgesamt im Veranstalterbereich – das sollte funktionieren. Dabei betreiben wir unsere globalen Plattformen heute zentral, unsere Landesgesellschaften agieren dezentral. Die Frage, welche Entscheidung für Kunden in Österreich die richtige ist, entscheiden die Kollegen in Österreich.

STANDARD: Welche Rolle spielt Österreich in dem Puzzle?

Joussen: Der österreichische Markt hat große Ähnlichkeit mit dem deutschen. Alle Mitbewerber, die dort auftreten, sind auch hier aktiv. Andererseits ist es so, dass die österreichischen Kunden die Auswahl ihres Urlaubs durchaus anders treffen. Nach Kroatien fährt man von hier aus mit dem Auto, von England ist es hingegen eines der begehrtesten Flugziele.

STANDARD: Magic Life, in früheren Zeiten der Lieblingsklub der Österreicher, hat stark gelitten, als im Zuge der Neuorganisation die Inhalte plötzlich in Hannover und London bestimmt wurden.

Joussen: Dazu kann ich nichts sagen, ich war damals noch nicht bei Tui. Heute ist Magic Life eine unserer vier Kernhotelmarken. Magic Life eignet sich für die Internationalisierung sehr gut, weil sie Sport und Aktivitäten im Fokus hat. Die Marke ist stärker im Osten des Mittelmeers präsent, dort ist aktuell eine Zurückhaltung der Nachfrage spürbar. Das wird sich im Laufe der Zeit ändern, weil wir auch im Westmittelmeerraum neue Clubs entwickeln und bauen wollen.

STANDARD: Plattformen wie Booking, Expedia etc. haben in kurzer Zeit einen gewaltigen Aufschwung genommen. Grund zu Sorge?

Joussen: Ich bin zu Tui gestoßen, weil den Eigentümern und dem Aufsichtsrat genau das Sorgen bereitet hat. Kostenseitig können klassische Konzerne nie mit reinen Onlineplattformen mithalten. Wir sind zunehmend digital und haben gute Onlinekanäle. Das heißt aber nicht, dass wir eine Internetplattformfirma sind oder werden wollen. Wir sind ein Hotel- und Kreuzfahrtkonzern mit direkt kontrolliertem Marktzugang.

STANDARD: Wie lautet Ihre Strategie?

Joussen: Konsequent den Weg von einem Handelsunternehmen zu einem integrierten Touristikunternehmen gehen, das alles aus einer Hand bietet, von unterschiedlichen Vertriebskanälen über Flugzeuge bis zur Unterkunft. Wenn ich den Vertrieb dafür einsetze, die Flugzeuge und Hotels auszulasten, ist das Internet keine Bedrohung – im Gegenteil – es eröffnet zusätzliche Chancen. Beispiel Karibik. Dort haben wir knapp 100 eigene Hotels. Die belegen wir über unsere eigenen Reiseveranstalter aus Europa und Kanada. Die größten Kundenströme kommen aber aus den USA. Dort haben wir keinen eigenen Reisebürovertrieb, dort sind auch Booking und Expedia zwei begehrte Onlineplattformen, die auch unsere Hotels im Angebot haben. Das ist gut. Wir dürfen nur nie von ihnen abhängig sein.

STANDARD: Mit eigenen Hotels und Flugzeugen sind Sie flexibler, die Kapitalbindung aber ...

Joussen: ... ist kein Problem, wenn die Kapitalrenditen 20 Prozent betragen wie in der Karibik. Die Kapitalbindung wird zum Problem, wenn sie in einer Destination sind, die nur im Sommer nachgefragt ist. Heute würde man wahrscheinlich in vielen Regionen am Mittelmeer in kein Hotel mehr investieren. In der Karibik hingegen können sie gar nicht genug Hotels bauen. Die belegen sie 365 Tage im Jahr.

STANDARD: Welche Ziele haben Sie?

Joussen: Heute haben wir 20 Millionen Kunden, die im Schnitt 800 Euro pro Buchung ausgeben. Ich könnte mir vorstellen, dass wir in fünf oder zehn Jahren 30 Millionen Kunden haben werden, die durchschnittlich 900 Euro ausgeben. Das ist keine Prognose, aber es ist doch ein ambitioniertes Ziel.

STANDARD: Sie kommen aus der Telekombranche, ein Unterschied?

Joussen: Total. Die Bereitschaft der Kunden, positiv über ihren Urlaub zu reden, ist enorm. In der Telekommunikation ist das anders. Dort haben sie Dauerschuldverhältnisse. Sie machen einen Zweijahresvertrag und bekommen ein subventioniertes Handy. Das subventionierte Handy ist schnell vergessen – dass er zwei Jahre gebunden ist, sieht der Kunde jeden Monat auf seiner Rechnung. Deshalb ist er oft nicht gut auf seinen Anbieter zu sprechen. Urlaub ist extrem positiv besetzt, Tourismus ist gigantisch ansteckend.

Friedrich Joussen (52) ist seit Februar 2013 Vorstandschef der Tui AG, des mit 76.000 Mitarbeitern größten Touristikkonzerns der Welt. Der gebürtige Duisburger studierte Elektrotechnik und arbeitete 20 Jahre bei Vodafone, zuletzt als Deutschland-Chef. Joussen ist mit einer Ärztin verheiratet und hat vier Kinder. DER STANDARD traf Joussen in Wien. (Günther Strobl, 8.7.2016)