Wir haben es in der Hand, unsere Lebensrealität zu gestalten und den von seinem Anforderungsprofil besten Bundespräsidenten für Österreich zu wählen. Fernab vom klassischen Links-rechts- oder Schwarz-Weiß-Denken ist die erneute Stichwahl zum Bundespräsidenten eine gute Möglichkeit für Österreich und die Demokratie, eine tiefgehend durchdachte Entscheidung für das Land zu treffen. Viele Menschen in Großbritannien würden sich eine solche zweite Chance in Zusammenhang mit der Abstimmung zum Verbleib in der EU wünschen.

Ohne für eine Seite Stellung zu beziehen, ist nun für beide Lager die Option gegeben, klar und deutlich zu zeigen, welche besonderen Fähigkeiten und Stärken ihr Kandidat als potenzieller Bundespräsident für die Menschen in Österreich einbringen könnte. Hier geht es nicht darum, einen Öxit aufs politische Tapet zu bringen oder sich auf eine andere Art bei seiner Wählergruppe zu profilieren. Ziel ist es, die wahre Substanz der Kandidaten hervorzubringen und nicht die mit NLP-artigen Techniken oder Spin-Doktoren erzeugten Nebelgranaten.

Wenn sich der Rauch verzogen hat und der jeweilige Kandidat ungeschminkt dasteht, ist es mit der politischen Romanze oft schnell vorbei, und der traurige Rest kommt zum Vorschein. Damit dies nach der zweiten Stichwahl nicht geschieht, müssen beide Kandidaten noch einmal auf den Prüfstand, und das ist kein Nachteil für die Wähler, für Österreich und die Demokratie.

In seinem Kommentar in der ORF-Sondersendung zum Verfassungsgerichtshof-Entscheid meinte Innenpolitikchef Hans Bürger zu Recht, dass man froh sein sollte, wählen zu dürfen. Auch wenn manche davon genervt sein dürften, wieder zur Wahl zu gehen, kann diese Tatsache durchaus als Indikator für die Qualität und den hohen Entwicklungsgrad unserer Demokratie gesehen werden. Wie oft hat man im Leben schon die Chance, seine Entscheidung für oder gegen etwas noch einmal genau zu reflektieren und alle Für und Wider in einem inneren Reflexionsprozess abzuwiegen.

Um diesen differenzierten Evaluierungsprozess zu gewährleisten, ist es wichtig, unabhängig von Freund- oder Feindbildern beide Kandidaten in Bezug auf ihre wahren Taten und klaren Aussagen analog zu einem Assessment-Center-Prozess zu bewerten. Über welche Kompetenzen und Anforderungsprofile verfügen die Kandidaten, und welche Taten sind ihnen im Sinne Österreichs zuzutrauen?

Angesichts der großen Anzahl an politischen Floskeln und scheinbaren NLP-Techniken ist es nicht immer leicht, wirklich klar zu gewichtende Hard Facts der Kandidaten herauszufiltern. Die bewusste Möglichkeit, noch einmal genau hinzuschauen, haben Herr und Frau Österreicher jetzt.

Livegespräch anhören

Jeder Wähler hat jetzt die Chance, in die Rolle eines professionellen Personalentwicklers zu schlüpfen und die Kandidaten oder den präferierten Kandidaten auf Herz und Nieren zu prüfen. Dabei darf man sich auch nicht zu schade sein, einmal ein Livegespräch bei einer Veranstaltung mit seinem Kandidaten zu suchen. Denn ein persönlicher Eindruck von Mensch zu Mensch liefert oft mehr Entscheidungsgrundlage als unzählige TV-Debatten.

Ein derartiger personeller Qualitätssicherungsprozess ist jetzt die Aufgabe der mündi- gen Wähler. Findet dieser in der Tiefe statt, indem alle Aussagen und Handlungen der Kandidaten auf die sprichwörtliche Goldwaage gelegt und von allen Seiten beleuchtet werden, dann gibt es für die mündigen Bürger auch auf längere Sicht keinen Grund mehr, sich über die Politik zu beschweren.

Wir haben es in der Hand, unsere Lebensrealität zu gestalten und damit auch den aufgrund seines Anforderungsprofils besten Bundespräsidenten für Österreich zu wählen. Nutzen wir die Chance und gehen wir zum zweiten Mal zur Stichwahl, um Österreich zumindest zu einem kleinen Teil zu einem besseren Platz zum Leben für uns alle zu machen. (Daniel Witzeling, 6.7.2016)