Tübingen – Nachdem sich unser Bild vom Neandertaler in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend zu dessen Gunsten gewandelt hat, kommt nun ein Befund, der auf den ersten Blick wieder ein Schritt zurück zu sein scheint: Kannibalismus. Tatsächlich zeigen die neuen Erkenntnisse aber nur, dass die kulturelle Vielfalt unter verschiedenen Neandertalergemeinschaften größer war, als man früher gedacht hätte.
Die Spuren
Dass es unter den Neandertalern im nördlichen Europa auch Kannibalismus gab, darauf weisen bestimmte Schnitt- und Schlagspuren an 40.500 bis 45.500 Jahre alten Knochen aus den Höhlen von Goyet in Belgien hin. Ein internationales Wissenschafterteam um Herve Bocherens von der Universität Tübingen berichtet darüber im Fachjournal "Scientific Reports".
Laut den Forschern weisen manche der bislang 99 gefundenen Knochenfragmente von Neandertalern klare Hinweise auf absichtliche Schlachtungen auf. Die Überreste seien sehr intensiv genutzt worden und würden Anzeichen für Häutung, Zerteilung und Extraktion des Knochenmarks tragen. "Die zahlreichen in Goyet gefundenen Überreste von Pferden und Rentieren wurden in der gleichen Weise bearbeitet", so Bocherens.
Erst das Fleisch, dann die Knochen
Vermutlich hätten die Neandertaler die Knochen ihrer Mitmenschen auch als Werkzeuge benutzt, berichtet Bocherens' Team weiter. Das zeigten unter anderem vier Knochen – ein Oberschenkelknochen und drei Schienbeine –, die zur Nachbesserung der Kanten von Steinwerkzeugen dienten. "Solche Werkzeuge für die Nachbearbeitung wurden sonst häufig aus Tierknochen gefertigt."
Ähnliche Rückschlüsse auf Kannibalismus unter Neandertalern waren zuvor bereits für Knochen in Südeuropa gezogen worden, die aus den Ausgrabungsstätten El Sidrón und Zafarraya in Spanien beziehungsweise Moula-Guercy und Les Pradelles in Frankreich stammen. Die Höhlen von Goyet liefern das erste Beispiel aus dem nördlichen Europa.
Unterschiedliche Kulturen
Unklar bleibt laut den Forschern, ob es dabei tatsächlich um Nahrungsgewinn oder um symbolische Handlungen ging. Zumal die in Goyet dokumentierten Praktiken keineswegs überall stattfanden: Keine der Neandertalerfundstätten in der gleichen Region liefere Hinweise auf einen ähnlichen Umgang mit Leichen wie in Goyet, so Bocherens. Stattdessen seien sogar Bestattungen bekannt. Im Gegensatz zu ihrer geringen genetischen Diversität hatten Europas Neandertaler offenbar eine große Bandbreite, was ihr Verhalten und ihre Kultur betrifft. (red, APA, 6. 7. 2016)