Spektakuläre Steilküsten und einsame Strände machen die Insel Samothraki zu einem touristischen Geheimtipp.

Foto: Sophia Bourdanou

In etwa 70.000 Ziegen und Schafe leben auf Samothraki – ihre zügellose Vermehrung führte zu Überweidung und Erosionen.

Foto: Projekt Susaki/Uni Klagenfurt

Diesen gegenübergestellt, sind die 3.000 Menschen, die auf der Insel wohnen (hier die Hauptstadt Chora) stark in der Minderheit. Die meisten sind Bauern oder arbeiten im Tourismus, viele wandern aus.

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Die Überreste des antiken Tempels der Großen Götter zeugen von einer langen Kulturgeschichte. Hier wurde dem mythischen Kult der Kabiren gehuldigt, in den auch Frauen und Sklaven aufgenommen wurden.

Foto: Sophia Bourdanou

Wien/Samothraki – Wasserfälle ergießen sich in türkisschillernde Naturbecken, die Berghänge sind mit uralten Eichen bewaldet. Spektakuläre Steilküsten wechseln sich mit Olivenhainen, Platanenwäldern und einsamen Kieselstränden ab. Die Sozialökologin Marina Fischer-Kowalski hat sich sofort in die griechische Insel Samothraki verliebt. Um 1990 herum verbrachte sie mit ihrer Familie wild campierend drei Urlaubswochen auf der Insel im nordöstlichen Eck der Ägäis. "Hinreißend", befand sie und kehrte daraufhin Jahr für Jahr wieder.

Dass sich aus dieser Beziehung ein langjähriges Forschungsprojekt entwickeln und sie zur offiziellen Ehrenbürgerin von Samothraki ernannt werden würde, hat Fischer-Kowalski damals nicht geahnt. Heute ist ihr Ziel klar: das kleine Eiland, das seit der ersten Besiedelung zu prähistorischen Zeiten von diversen Krisen gebeutelt wurde, in eine nachhaltige, sozial wie ökologisch verträgliche Zukunft zu führen.

"Diese Insel hat mich fasziniert, mit ihrer Wildnis, aber auch mit ihrer Kultur", sagt Fischer-Kowalski, Gründerin des Wiener Instituts für Soziale Ökologie, das an die Universität Klagenfurt angegliedert ist. Um das mehr als 1.600 Meter hohe Bergmassiv, das den Großteil der Insel beherrscht, ranken sich Mythen, die noch heute Rätsel aufgeben wie etwa der Kult der Kabiren, dem im antiken Tempel der Großen Götter gehuldigt wurde. Dessen Überreste – unter anderem die Nike von Samothraki, die im Louvre steht – zeugen von einem bedeutenden Wallfahrtsort. Dort wurde ein für diese Zeit sehr unorthodoxer Kult betrieben – auch Frauen und Sklaven konnten sich einweihen lassen.

Camping-Tourismus

Auch heute pilgern hauptsächlich alternative Individualtouristen auf die nur per Fähre erreichbare Insel. 40 Prozent der rund 30.000 jährlichen Besucher (vor allem Griechen) übernachten auf dem lokalen Campingplatz, zehn bis 15 Prozent campieren wild, der Rest wohnt in Privatzimmern, berichtet Fischer-Kowalski. Neben dem Tourismus ist die Landwirtschaft die wichtigste Einkommensquelle der knapp 3.000 Einwohner.

Die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe der Insel stellt denn auch das Vieh, genauer gesagt: Schafe und Ziegen. Deren zügellose Vermehrung ist dafür verantwortlich, dass es zu massiver Überweidung und Erosion vor allem in den bergigen Gebieten kam, was eine zunehmende Gefahr für das Ökosystem darstellt. Die Ziegen- und Schafpopulation wuchs dank der EU-Agrarsubventionen von 15.000 in den 1960er-Jahren auf 70.000 in den 2000ern an. "Sie fressen die Insel leer", sagt Fischer-Kowalski. "Die Schafe sind dumm, aber die Ziegen sind nicht unter Kontrolle zu bringen."

Weil die Tiere auch vor dem Tourismus nicht haltmachen und Gärten leerfressen, führte das auch zu erheblichen Konflikten zwischen Bauern und Fremdenverkehrsbetrieben. Hunderte Gerichtsverfahren in Sachen Ziegenvandalismus sind laut Fischer-Kowalski derzeit anhängig.

Fruchtbare Zusammenarbeit

Deswegen sind auch die Ziegen einer der Knackpunkte für die Forscher rund um Fischer-Kowalski, die sich als Pionierin auf dem Gebiet der sozialen Ökologie schon seit vielen Jahren mit den Wechselwirkungen zwischen Natur und Gesellschaft beschäftigt. Seit die Wissenschafterin 2005 bei einem weiteren Urlaub auf dem Campingplatz von zwei Frauen der lokalen NGO Samothraki in Action angesprochen wurde, lässt sie die Idee, Landwirtschaft und Tourismus auf Samothraki auf eine fruchtbare Art und Weise zusammenzuführen, nicht mehr los.

Das könnte erreicht werden, in dem Schafkäse, Ziegenmilch und andere Agrarprodukte besser vermarktet werden – auch touristisch gesehen. "Mit 20 bis 30 Prozent mehr Touristen und intelligenter Landwirtschaft könnte die Situation der Bewohner verbessert werden, ohne ökologischen Schaden anzurichten", ist Fischer-Kowalski überzeugt.

Da schon jetzt zwei Drittel der Insel praktisch unter Naturschutz stehen (formell fehlt noch die rechtliche Abwicklung durch das griechische Umweltministerium, aber das ist eine andere Geschichte), sollte Samothraki in einem ersten Schritt zu einem Unesco-Biosphärenreservat gemacht werden. Ein entsprechender Antrag aus dem Jahr 2011 wurde jedoch mangels eines geeigneten Managementkonzepts abgelehnt. "Die Griechen hatten schon früher kein Geld für so was", sagt Fischer-Kowalski.

Also beschlossen sie und ihr Team, erst einmal die Situation vor Ort systematisch zu erforschen, um herauszufinden, wie soziale und ökologische Dynamiken auf der Insel ineinandergreifen. Mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF konzentrieren sich die Forscher in dem vor einem Jahr gestarteten Projekt Susaki auf die sogenannten Tipping-Points, also jene heiklen Punkte, an denen das ganze Sozial- und Ökosystem kippen kann.

Happy Goats am Smartphone

"Wenn die Menschen im Tourismus zu wenig verdienen, verlassen sie die Insel. Schulen und Gesundheitseinrichtungen müssen zusperren, und in der Saison übernehmen Geschäftsleute die Insel, die kein Interesse an Nachhaltigkeit haben", zeichnet Fischer-Kowalski so ein Szenario. Schon jetzt würden 30 Prozent der Familien abwandern. In Fokusgruppengesprächen eruierten die Wissenschafter die Bedürfnisse von Hirten, Handwerkern, Eltern, alten Leuten und Touristikern.

Als Erstes gingen die Forscher die härteste Nuss an – die Bauern und ihre Ziegen. Trotz anfänglichen Misstrauens konnten bereits erste Erfolge erzielt werden. So wurde die eigens entwickelte Smartphone-App "Happy Goats" unter die Hirten (beziehungsweise ihre technikaffineren Söhne) gebracht. Damit kann das Jahreseinkommen der Bauern unter verschiedenen Annahmen berechnet werden. Dabei hat sich herausgestellt, dass aufgrund der Bodenerosion die Futterkosten so stiegen, dass mit der Hälfte der Tiere mehr Einkommen bei weniger Arbeit erzielt werden kann, sagt Fischer-Kowalski.

In einem zweiten Projekt werden Bauern mit speziellen Saatmischungen ausgestattet, damit sich überweidete Flächen erholen können. Derzeit werden sechs Testflächen ein Jahr lang beobachtet. Mit Juli startete nun ein ebenfalls vom FWF finanziertes, bis 2018 laufendes Citizen-Science-Projekt, mit dem rund 60 Inselbewohner in die wissenschaftliche Arbeit eingebunden werden sollen, um sie letztlich zu "Trägern der Bewegung" zu machen, wie Fischer-Kowalski sagt. Eine NGO könnte dann auch das Management eines zukünftigen Biosphärenreservats übernehmen – die Ökologin wälzt schon Pläne, um Geld dafür aufzustellen.

Halb so viele Ziegen als Ziel

Vorerst schwärmen zwischen 9. und 22. Juli während der Summer University of Samothraki Studenten aus, um die Erosion zu dokumentieren, Flüsse und den Waldbestand zu untersuchen, das Gesundheitssystem zu durchleuchten – und Ziegen zu zählen. "Mein Ziel bis 2025: Halb so viele Ziegen und Schafe auf der Insel", sagt Fischer-Kowalski. Hass auf die Tiere hat sie aber nicht entwickelt, im Gegenteil: "Ich liebe sie und freue mich, dass sie überall sind." (Karin Krichmayr, 8.7.2016)