STANDARD: Am Ende scheinen es die meisten Experten gewusst zu haben: Der Verfassungsgerichtshof musste die Stichwahl zur Präsidentschaftswahl aufheben. War das tatsächlich so eindeutig?

Lachmayer: Der VfGH hat sich auf seine bisherige Rechtsprechungslinie berufen. Es hätte aber gute Gründe gegeben, davon abzugehen. So fand ein umfassendes Beweisverfahren statt, das es in dieser Form noch nie gegeben hat. Dabei wurden keinerlei Wahlmanipulationen nachgewiesen. Dieses Ergebnis wäre zu nützen gewesen. Der zweite Grund ist, dass es nicht um spezifische Problemstellungen dieser Wahl gegangen ist, sondern um formale Fehlentwicklungen, die über Jahrzehnte entstanden sind. Selbstverständlich ist die Professionalisierung des Wahlrechts geboten – das hätte allerdings früher passieren müssen.

STANDARD: Eine Säumigkeit?

Lachmayer: Die Linie, der das Gericht folgt, heißt: Rechtswidrigkeiten werden betrachtet, wenn sie schon theoretisch das Wahlergebnis beeinflussen – sonst gar nicht. Das hat den Effekt, dass die Überprüfung von Wahlen bisher nur reduziert stattfand. Daher wurden Verstöße wie zu frühes Auszählen nicht überprüft. Erst bei der Stichwahl wurde das aufgegriffen.

"Welche Auswirkungen hat die Aufhebung dieser Wahl auf die Demokratie? Sehr große! Und welche Auswirkungen hatten die konkreten Verletzungen des Wahlverfahrens? Sehr geringe – es gab ja keine Wahlmanipulation", sagt Verfassungsjurist Konrad Lachmayer.
Foto: APA/Neubauer

STANDARD: Aber es darf doch keine Rolle spielen, um welche Wahl es sich handelt?

Lachmayer: Das schon. Nur haben die Höchstrichter die rechtsstaatlichen Argumente einer formalistischen Judikatur in den Vordergrund gestellt, anstatt sich auch die demokratiepolitischen Auswirkungen anzusehen. Es hätte eine Abwägung in Hinblick auf demokratische Effekte geben müssen: Welche Auswirkungen hat die Aufhebung dieser Wahl auf die Demokratie? Sehr große! Und welche Auswirkungen hatten die konkreten Verletzungen des Wahlverfahrens? Sehr geringe – es gab ja keine Wahlmanipulation.

STANDARD: Überspitzt gefragt: Ist die Demokratie gefährdet, wenn die Briefwahlkuverts früher als festgelegt aufgeschlitzt werden?

Lachmayer: Die Demokratie ist durch solche Verstöße eben nicht gefährdet. Es wurde gegen das Wahlrecht verstoßen. Die Frage ist aber, wie mit Formalfehlern umgegangen wird. Einerseits werden kaum Anfechtungen zugelassen, andererseits jegliche Rechtswidrigkeit bei Zulassung aufgegriffen. Am Anfang ist es zu eng gefasst, dann überschießend.

STANDARD: Hat man da also mit Kanonen auf Spatzen geschossen?

Lachmayer: Der VfGH ist ein staatspolitisches Grenzorgan. Er nimmt nicht nur eine Rolle als Höchstgericht wahr, er ist auch politischer Akteur. Implizit hat er hier eine demokratiepolitische Entscheidung getroffen. Explizit drückt er sich aber davor. Damit verbunden muss man auch über die Transparenz des Gerichts sprechen. Abstimmungsverhältnisse sollten öffentlich gemacht werden. Auch in Deutschland besteht die Möglichkeit, eine abweichende Meinung abzugeben.

STANDARD: Geschieht das aus Angst, als zerstritten zu gelten?

Lachmayer: Vor hundert Jahren war man der Meinung, dass damit die Autorität des Gerichts untergraben werden würde. Diese Sicht wurde beibehalten. Im 21. Jahrhundert ist das aber kein gutes Argument mehr. Aufgrund der Relevanz der Entscheidungen, die hier getroffen werden, ist es notwendig, diese internationalen Standards auch in Österreich zu etablieren.

STANDARD: Droht bei der neuen Stichwahl wieder eine Anfechtung?

Lachmayer: Vonseiten des Innenministeriums muss alles Mögliche getan werden, damit die Vollziehung der Wahlgesetze gesetzeskonform erfolgt. Was nun aber auffällt: In der Konzeption der Bundespräsidentenwahl gibt es einen Konstruktionsfehler. Die anderen Bewerber und Bewerberinnen der ersten Wahlrunde sind völlig außen vor, obwohl sie von denselben Problemen betroffen waren.

Ob es Wahlbeobachter braucht? "Wer Wahlbeobachter involviert, macht es richtig. Diese beizuziehen kann keiner Demokratie schaden", findet Lachmayer.
Foto: Hendrich

STANDARD: Sollte also auch der erste Wahlgang wiederholt werden?

Lachmayer: Ja, aber das geht rechtlich nicht. Das wäre doch eine Reformmöglichkeit. Wenn Probleme, die entstanden sind, sich nicht nur auf die Stichwahl, sondern auf die gesamte Wahl beziehen, warum sollten diese dann nicht auch dort schlagend werden?

STANDARD: Der Innenminister will bei der neuen Stichwahl Wahlbeobachter zuziehen. Ist das eine gute Lösung oder eher ein falsches Signal?

Lachmayer: Das ist durchaus sinnvoll. Es geht um eine Professionalisierung der Wahl. Außerdem wertet es letztlich andere Demokratien auch ab zu sagen: Wer Wahlbeobachter braucht, ist unprofessionell. Es sollte genau umgekehrt sein: Wer Wahlbeobachter involviert, macht es richtig. Diese beizuziehen kann keiner Demokratie schaden.

STANDARD: Künftig sollen Medien erst nach Wahlschluss Daten ...

Lachmayer: ... bekommen, was ich gut finde. Das Informationsbedürfnis erst nach einem gewissen Zeitraum zu stillen ist legitim.

STANDARD: Aber sind nicht eher Twitter, Facebook und Co die Problemzonen? Müsste man dann konsequenterweise den Wahlhelfern die Handys wegnehmen?

Lachmayer: Das ist eine Sache, über die diskutiert werden kann. Aber man soll es auch nicht übertreiben. Was es vor allem braucht, sind klare gesetzliche Vorgaben für diese Fälle. (Peter Mayr, 6.7.2016)