Athen – Für Spiros Karanikolas ist es eine Wahl zwischen schlecht und sehr schlecht, zwischen einem tiefen Loch in der Kassa in diesem Jahr oder dem Ende seines noch jungen Berufslebens in Griechenland. "Es ist, als ob die Botschaft der Regierung an die Anwälte lautet: Gebt eure Kanzleien auf oder verlasst das Land", sagt der 34-Jährige. Er wäre nicht der Erste, der geht. Eine halbe Million Griechen haben seit Beginn der Finanzkrise das Land verlassen, so stellte die Zentralbank in Athen in einer dieser Tage veröffentlichten Studie fest. Drei von vier Griechen waren Hochschulabsolventen, heißt es in einer anderen neuen Untersuchung.

Streik bis September

Karanikolas, Spross einer Anwältefamilie, boykottiert bereits seit Jänner Gerichtstermine und verliert damit Geld. Seine 42.000 Kollegen im Land tun es auch – die Anwältekammer hat es so entschieden und den Streik sogar bis Mitte September verlängert, wenn auch unter gelockerten Bedingungen. Ihre Beschlüsse sind bindend, die Auswirkungen enorm. Die Zahl der anhängigen Gerichtsverfahren ist auf knapp eine Million angewachsen. Mehr als 300.000 Fälle sind seit Beginn des Streiks hinzugekommen. Es grenze an Rechtsschutzverweigerung, räumt ein anderer Athener Anwalt ein, der vor allem Unternehmer als Klienten hat. Der Berg an neuer unerledigter Arbeit dürfte das Tempo der griechischen Justiz auf zwei, möglicherweise drei Jahre noch mehr verlangsamen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Protestmarsch der Anwälte in Athen vor einem halben Jahr: Ein Boykott aller Gerichtsverfahren, in denen staatliche Einrichtungen Kläger oder Beklagte sind, ist bis September verlängert worden.
Foto: Reuters

Griechenlands Anwälte kämpfen gegen die Reform der Sozialversicherung an und gegen die Neuregelung der Einkommenssteuersätze. Beides sind Maßnahmen, die Griechenlands Kreditgeber der Regierung auferlegt haben und die nun die freien Berufe im Land besonders hart treffen. Die Anwälte, ebenso wie die Architekten, Ärzte oder freie Journalisten klagen über eine absurd hohe Abgabenlast: 70 Prozent und mehr ihres Einkommens sollen sie ab nächstem Jahr berappen. Bei 20.000 Euro Verdienst im Jahr, so rechnet Karanikolas vor, müsse er 14.000 Euro an Sozialversicherung und Steuer zahlen. 6000 Euro im Jahr bleiben zum Leben. "Dieses Gesetz vernichtet mich", sagt der junge Anwalt.

Großteil ohne Beschäftigung

Denn anders, als man annehmen möchte, sind auch die Einkommen der Freiberufler in Griechenland durchaus bescheiden. 2000 und weniger Euro im Monat – offiziell deklariert – sind eher der Normalfall; und sie werden im Gegensatz zu Arbeitnehmern vom ersten Euro an besteuert. 85 Prozent der Anwälte verdienen weniger als 15.000 Euro im Jahr, sagt Elias Konstantopoulos, ein renommierter Anwalt im teuren Athener Innenstadtviertel Kolonaki. Eine Statistik der Athener Anwältekammer weist als größte Gruppe der Anwälte – mehr als 7000 – jene aus, die übers Jahr keinen einzigen Gerichtstermin haben und deshalb als beschäftigungslos gelten.

Konstantopoulos ist gegen den Streik. Dieser hat monatelang den Prozess wegen Mordes und organisierter Kriminalität gegen die Faschistenpartei Goldene Morgenröte verschleppt und blockiert jetzt noch die großen Korruptionsprozesse gegen Siemens oder Banker. Der Streik, so sagt Konstantopoulos, nütze ironischerweise den großen Anwaltsbüros in Griechenland. Jenen, die Juristen für 800 Euro im Monat einstellen.

Der Plan der Kreditgeber aber sei, den in Griechenland traditionell hohen Anteil an Freiberuflern in der Wirtschaft zu reduzieren: 35 Prozent sind selbstständig. Die Steuerhinterziehung – so der Gedanke der Geldgeber – ist hier besonders hoch. Ob ein solcher Plan funktioniert, ist eine andere Frage. Viele Freiberufler sagen achselzuckend voraus, die hohe Abgaben- und Steuerlast werde eben nur mehr Geschäfte ohne Rechnungen nach sich ziehen. Niemand könne sich leisten, legal zu bleiben. "Das System wird kollabieren", glaubt wiederum Spiros Karanikolas. Die neuen Sozialversicherungsbeiträge würden einfach nicht bezahlt.

Falsch gerechnet

Das Ministerium von Arbeits- und Sozialminister Georgios Katrougalos – er ist selbst Anwalt – weist die Klagen zurück. Die Anwältekammern würden falsche Zahlen präsentieren und Vorauszahlungen und tatsächliche Beiträge zusammenrechnen. Die offiziellen Zahlen sind niedriger – aber nicht sonderlich attraktiver: Bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 12.000 Euro würden insgesamt 48,13 Prozent fällig, bei 90.000 seien es 56,52 Prozent Steuern und Beiträge. (Markus Bernath, 5.7.2016)