Im internationalen Vergleich bleibt Österreich ein Briefwahlzwerg.

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Knapp 760.000 Bürger, oder 16,4 Prozent aller Wähler, zogen es beim zweiten Durchgang der Bundespräsidentenwahl vor, ihre Stimme per Briefwahl abzugeben. Das waren 40 Prozent mehr als im ersten Durchgang oder auch als bei der letzten Nationalratswahl; da betrug der Briefwahlanteil rund zwölf Prozent. Die Rekordmenge an Briefwahlstimmen am 22. Mai führte in vielen Sprengeln zu jener Überlastung, die letztlich zur Wahlaufhebung führte.

Im internationalen Vergleich aber bleibt Österreich ein Briefwahlzwerg: In Deutschland nutzten bei der letzten Bundestagswahl 2013 24 Prozent die Briefwahloption, dort ist der Anteil von Wahl zu Wahl stetig gestiegen. In der Schweiz liegt der Briefwähleranteil in der Regel deutlich über 80 Prozent. Nur noch ein Bruchteil der Eidgenossen sucht am Sonntagvormittag eines der Wahllokale auf, die alle schon zu Mittag schließen.

Auch in den USA und zahlreichen anderen westlichen Demokratien geht der Trend in Richtung Briefwahl – damit soll der Wahlmüdigkeit entgegengewirkt und die Beteiligung erhöht werden. In den US-Bundesstaaten Oregon und Washington existiert nur noch Stimmabgabe per Brief, in der Schweiz wird die elektronische Stimmabgabe (E-Voting) schrittweise eingeführt.

Erst 2007 eingeführt

In Österreich wurde das Recht auf Briefwahl erst durch eine Verfassungsreform 2007 allen Wählern eingeräumt; davor war es auf Auslandsösterreicher beschränkt – und auch für sie nur mit Hindernissen. Möglich aber war es schon lange davor, seine Stimme am Wahltag mit Wahlkarte in einem fremden Wahllokal abzugeben.

Bei den ersten Urnengängen mit Briefwahl traten Kinderkrankheiten auf. Vor allem die Möglichkeit, den Brief mit der Stimme erst nach Bekanntgabe des inoffiziellen Wahlergebnisses am Montagmorgen in den Postkasten zu werfen, stieß vielen Experten übel auf – und wurde 2011 abgeschafft.

Aber auch die heutige Praxis kommt nicht überall gut an. Verfassungsgerichtshofpräsident Gerhart Holzinger stellte in seiner öffentlichen Erklärung am Freitag die Briefwahl zwar nicht infrage, betonte aber, dass sie die Ausnahme bleiben sollte. Sein Vorgänger Karl Korinek schrieb in einem Presse-Kommentar unter dem Titel "Unappetitlich und unerträglich": "Eine Entwicklung des Wahlrechts in die Richtung, dass sich die Menschen frei entscheiden können, ob sie persönlich wählen gehen oder ihre Stimme per Brief (oder E-Mail) abgeben, wäre gefährlich."

Wer macht das Kreuzerl

Denn bei der Briefwahl weiß man nie, wer das Kreuzerl wirklich macht, ob etwa Familienmitglieder wirklich frei entscheiden können. Und auf dem Postweg sind auch Manipulationen von außen nicht ausgeschlossen. In Frankreich etwa wurde die Briefwahl in den 1970er-Jahren wieder abgeschafft, weil man Wahlmanipulationen durch die teils kommunistisch organisierten Briefträger fürchtete.

Der Verfassungsrechtler Gerhard Strejcek weist darauf hin, dass im Kommentar zur Wahlordnung die Briefwahl als "gleichberechtigter Voting-Channel" bezeichnet wird. Allerdings liege ein typischer Zielkonflikt zwischen zwei demokratiepolitischen Interessen vor: dem Schutz der freien und von Wahlbehörden kontrollierten Stimmabgabe und dem Erreichen einer möglichst hohen Wahlbeteiligung. "Wenn man die Beteiligung steigern will, dann ist es legitim, die Regeln zu lockern", sagt er dem Standard. "Dann muss man aber auch gewisse Abstriche bei der Einhaltung von Formalvorschriften machen." Dieses Dilemma habe das Höchstgericht in seiner Entscheidung nicht ausreichend berücksichtigt, kritisiert Strejcek.

Angesichts sinkender Wahlbeteiligungszahlen wäre für Strejcek der logische Endpunkt in Österreich das allgemeine E-Voting, auch wenn es manipulationsanfällig ist. Allerdings steht nach der VfGH-Entscheidung auch eine Reform im Raum, die die Briefwahl wieder einschränken würde. Vor allem die FPÖ will diese Option lieber heute als morgen abschaffen: Sie schneidet bei Briefwählern stets deutlich schlechter ab. (Eric Frey, 2.7.2016)