Wie schafft man es, dass eine offenkundig in die Jahre gekommene Partei sich neu erfindet und wieder wählbar wird? Wie erreicht sie eine neue Generation von Bürgern, die es leid sind zu beobachten, dass angewandte Politik sich Tag für Tag im buchhalterischen Klein-Klein verliert, oft den Eindruck vermittelnd, nicht zu wissen, was von ihr angesichts der großen Herausforderungen wie das Auseinanderbrechen Europas, Klimabedrohungen, Krisen des Finanzsystems, Bewältigung von Flüchtlingsfragen, Abwehr von Rechtspopulismus erwartet werden muss? Reicht es, einen charismatischen, klugen und in Wirtschaftsfragen modern denkenden neuen Parteichef aufs Podest zu heben, zugleich wissend, dass die Genetik seiner Partei und erst recht die Glaubensbekenntnisse seines koalitionären Gegenübers nahezu unmöglich zu beseitigende Hürden sind?

Die Sozialdemokratie stand bis vor wenigen Jahren an der vorderen Front der Modernisierung. Immer waren Bildung, Wissenschaft, bildungssozialer Aufstieg, Sicherung des Wohlstands, Produktivitätssteigerungen und Investitionen in der Wirtschaft, Verhinderung des Auseinanderdriftens zwischen Arm und Reich sowie eine vorausschauende, auf Kooperation und dauerhaften Frieden konzentrierte Außenpolitik das Markenzeichen dieser Partei. In den Ohren einer jungen Gesellschaft allerdings gelten ihre Slogans als vorgestrig.

Die Sozialdemokratie hat die Arbeiterschaft verloren. Untere soziale Schichten in den Städten, ländliche Bevölkerung, um seine Existenzgrundlage bangender Mittelstand und unter dem Druck internationaler Konkurrenz kämpfende Unternehmer erkennen nicht mehr, welche Vorteile ihnen eine Partei bringen soll, die zudem hinnehmen muss, dass sie von allen politischen Seiten ihrer sozialen Ideen beraubt und ausgelaugt worden ist. Angela Merkel zählt zu den besten sozialdemokratischen Kanzlern, die Deutschland bis dato hatte.

Einer unserer Altintellektuellen, Caspar Einem, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Partei sich ein Grundsatzprogramm mit diesem Ziel gesetzt hat: Wir stehen für die "Wahrung der Menschenrechte ein und stehen für eine Politik, die die Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben selbstbestimmt und mündig zu gestalten, und wollen gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die diesem Prinzip entsprechen". Darin ist eigentlich das ganze Programm, wenn auch für die Tagesanwendung noch zu abstrakt, verpackt.

Rasanter Wandel

Wir beobachten zurzeit einen rasanten Umbau des Arbeitsmarktes und der Strukturen, in denen Wertschöpfungsleistungen erbracht werden. Die Zahl der Einpersonenunternehmen nimmt exponentiell zu. In größeren Firmen verschiebt sich das Gewicht von festangestellten zu temporären oder Leiharbeitern sowie durch Outsourcing in nachgelagerte Wertschöpfungsketten. Die Beschäftigungsgarantie ist passé, die Generation Praktikum hat sich schon darauf eingerichtet, weder einen festen noch einen inhaltlich konstanten Arbeitsplatz zu bekommen. Die Prognosen zur Ersetzung menschlicher Arbeitsleistung durch Roboter fallen drastisch aus und werfen zu Recht die Frage auf, ob damit nicht auch die Steuern auf menschliches Arbeitseinkommen wie auch Konsumentensteuern auf eine neue Basis gestellt werden müssen.

Kanzler Kern hat dafür den Begriff der "Maschinensteuer" aus der Mottenkiste hervorgeholt. Der Begriff mag zwar verstaubt und ideologisch belegt sein, jedoch: Das Konzept dahinter macht so viel Sinn, wie es z. B. auch die Transaktionssteuer macht. Immer weniger Wertschöpfung wird durch menschliche Hände, immer mehr durch Roboter, denkende Maschinen und künstliche Intelligenz produziert. Dieses radikale Zerbrechen gewohnter Wirtschaftsstrukturen ist nicht als evolutionärer Sprung zu verstehen. Er charakterisiert im wahrsten Sinne des Wortes eine Unterbrechung von bisher gewohnten, gelegentlich überraschenden, aber bis dato verträglichen Entwicklungen. Der Begriff für diese Unterbrechung: Disruption.

Unsere neue Arbeitswelt hat einen neuen Protagonisten hervorgebracht: den Wissensarbeiter. Er ist ein Selbsternährer, der sich seine Existenz mittels Wissens sichern kann, ohne das die Wertschöpfungskette, in die er integriert ist, nicht funktionieren würde. Der Kfz-Mechaniker von heute muss weit mehr in der Lage sein, an einem Laptop die Zustandsdiagnose des ihm anvertrauten Autos zu interpretieren, als mit seiner sekundären Qualifikation einen Schraubenschlüssel zu bewegen. Die Sozialdemokratie ist gut beraten, sich auf diese neue Arbeiterklasse zu konzentrieren, deren Erwartung darauf gerichtet ist, etwas "mit Sinn" zu tun.

Die Radikalität des Wandels lässt sich auch an der Geschwindigkeit des Aufkommens von Innovationen und der durch sie induzierten Geschäftsmodelle ablesen. Es ist heute nicht mehr so sehr die Frage, dass Innovation der Wettbewerbsfaktor schlechthin ist, sondern wie man mit der Akzeleration von Neuerungen zurechtkommt. Wir werden etwa innerhalb einer Dekade erleben, dass die Autoindustrie vom bestehenden Modell und ihrer Erfolgsmessung nach Stückzahlen produzierter Fahrzeuge auf Konzepte der integrierten Mobilität inklusive selbstfahrender Autos umsteigen wird, was dramatische Umstrukturierungen in der weiteren Zuliefer- und Kontextindustrie zur Folge haben muss.

Die Herausforderung an unsere Wirtschaft wird darin bestehen, dass wir unsere Zukunft täglich neu erfinden und das intellektuelle Potenzial der Arbeiter der Zukunft, eben der Wissensarbeiter, steigern und optimal verwerten müssen. Dieses Szenario zu antizipieren und darauf bald programmatische Antworten und Strategien zu entwickeln muss nun, im Sinne ihres Bekenntnisses zur Modernisierung, die Sozialdemokratie leisten.

Die Disruption in Wirtschaft, Gesellschaft und in Konsequenz die garantierte Revolution der Arbeitswelt wirft die Frage auf, ob und wenn ja durch welche Wertschöpfungsleistungen wir dann unseren Lebensunterhalt verdienen werden. Eines der zentralen Themen dabei ist die Frage nach Gerechtigkeit. Mehr und mehr Menschen zweifeln daran, dass die als anonyme Mächte verdächtigten "Systeme" den Bürger zu dessen Zufriedenheit gerecht behandeln. Vornehmlich geht es um die materielle Gerechtigkeit im Sinne der gerechten Verteilung von Geld und Vermögen.

Die Frage nach der gerechten Entlohnung, eingebettet in das gezeichnete Szenario der neuen Arbeitswelt, führt zwangsläufig in die Diskussion zum bedingungslosen Grundeinkommen, die zwar bei Sozialdemokraten keine und noch weniger bei den Gewerkschaften Konjunktur hat, aber fraglos eines der unvermeidlichen Reibethemen sein wird, an denen sich der Diskurs zur zukünftigen Sicherung der sozialen Standards und der gerechteren Mittelallokationen entwickeln muss.

Es wird der Sozialdemokratie nicht gelingen, "die Kurve zu kriegen", wenn sie sich weiterhin als Reparaturverband für die durch neoliberale Auswüchse erzeugten Kollateralschäden versteht. Wenn eine Partei eine neue Vision glaubhaft zu formulieren das Potenzial hat, dann sollte das die sozialdemokratische Bewegung sein, die den Mut zu fassen hätte, diesen Anspruch mit Substanz und Inhalten und nicht nur mit Lichtgestalten zu füllen. Voraussetzung ist, der durch hochfrequente Veränderungen gestressten und verunsicherten Gesellschaft zu vermitteln, dass man die Souveränität zur Erschließung der Zukunft nicht durch die Propaganda einfacher Lösungen erwirtschaftet, sondern durch intelligente Durchdringungen der komplexen Problemgebirge. (Günter Koch, 30.6.2016)