Empfangen wurde sie, als der britische Premier David Cameron bereits abgereist war. Mittwoch Nachmittag kam die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon in Brüssel mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Parlamentspräsident Martin Schulz und anderen führenden Abgeordneten zusammen, um ihre Position vorzutragen. Die nämlich lautet: Die Schotten wollen in der EU bleiben – zur Not auch ohne Großbritannien.

Die Schotten hatten bei dem EU-Referendum am Donnerstag der vergangenen Woche anders als die Engländer und Waliser mit deutlicher Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt. Sturgeon sieht ihren Landesteil damit gegen den Willen der Bevölkerung aus der EU gedrängt, weshalb sie nun die Chancen auf eine weitere Mitgliedschaft in der EU auslotet.

Sturgeons Brüssel-Besuch fand zu einem sensiblen Zeitpunkt statt, da sie das Verhältnis Schottlands zur EU zum Thema macht, noch bevor die britische Regierung die Gespräche zum Austritt Großbritanniens aufgenommen hat. Weshalb es EU-Ratspräsident Donald Tusk vorgezogen hatte, Sturgeon nicht zu empfangen.

Viele Ideen, wenig klar

Ideen, wie Schottland Mitglied bleiben kann, gibt es – über deren Realisierungsmöglichkeiten allerdings herrscht Uneinigkeit unter Experten. So hat Sturgeon etwa auch erklärt, das schottische Parlament könnte ein Veto gegen die Aktivierung von Artikel 50 einlegen, mit dem der britische Austritt eingeleitet wird. Es ist aber unklar, ob dies rechtlich bindend wäre. Weiters brachte Sturgeon die Option eines erneuten Unabhängigkeitsreferendums ins Spiel. 2014 hatten die Schotten schon einmal über die Loslösung von Großbritannien abgestimmt. Damals entschieden sie sich mit knapper Mehrheit gegen den Alleingang. Laut Umfragen hat sich die Stimmung nach dem Brexit aber gedreht, weshalb Sturgeon nun enorm Druck aufbaut.

Als unabhängiger Staat könnte Schottland neues Mitglied der EU werden. Theoretisch müsste auch das Parlament in London einem schottischen Referendum zustimmen. Dem Brexit entgehen könnte die Regierung in Edinburgh eventuell auch, indem sie sich auf den Scotland Act von 1998 beruft, der die Kompetenzen des schottischen Regionalparlaments festlegt. Darin ist zwar festgehalten, dass auswärtige Angelegenheiten von London geregelt werden.

Fragen für Verfassungsjuristen

Allerdings ist es Edinburgh auch vorbehalten, EU-Gesetze zu implementieren. Sollte dieser Passus also nicht geändert werden, dann könnte Schottland weiterhin EU-Gesetze übernehmen, selbst wenn das restliche Vereinigte Königreich nicht mehr Teil der EU wäre und abweichende Gesetze verabschieden würde.

Ob diese Variante realisierbar ist, "müssen die Verfassungsjuristen erst klären", sagt Politikwissenschafter und Großbritannien-Experte Roland Sturm von der Universität Erlangen. Eine schottische EU-Mitgliedschaft droht außerdem noch von anderer Seite blockiert zu werden: Spaniens Premier Mariano Rajoy äußert sich jetzt schon sehr skeptisch zu solchen Plänen – aus Sorge vor der Abspaltung seiner Regionen.

Mit Blick auf Katalonien, das im Fall einer Trennung von Madrid ebenfalls Verhandlungen mit Brüssel aufnehmen könnte, wird Spaniens Regierung derartigen Bemühungen einen Riegel vorschieben. Letztlich aber sei die Frage Verhandlungssache und hänge davon ab, "was sich die Kommission vorstellt", resümiert Politologe Stark: "So sie überhaupt verhandeln will. Vor dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum 2014 hat sie immerhin mit dem EU-Ausschluss gedroht." (Anna Giulia Fink, 29.6.2016)