Viel tiefer geht es nicht mehr: Trotz drohenden Zerfalls der Europäischen Union nach dem britischen Referendum inmitten einer noch immer nicht bewältigten, seit acht Jahren währenden Wirtschaftskrise und der nicht annähernd gelösten Flüchtlingsfrage sägt die EU eifrig am eigenen Fundament. Im Windschatten der Brexit-Hysterie ließ Kommissionschef Jean-Claude Juncker beim Gipfel in Brüssel die Katze aus dem Sack und verkündete, dass das heikle Handelsabkommen mit Kanada unter Ausschluss der nationalen Parlamente durchgeboxt werden soll.

Hat Juncker irgendetwas begriffen? Da verabschiedet sich mit der zweitgrößten Volkswirtschaft ein – oftmals verkannt – wegen seiner Fachexpertise und Bedeutung in der Welt unersetzbares Mitglied nicht zuletzt wegen der Brüsseler Zentralisierungstendenzen aus der Union, und die EU-Kommission reagiert darauf, indem sie die Nationalstaaten aufs Abstellgleis manövriert. Da droht, vom britischen Orkan ausgehend, eine Sezessionswelle über die EU zu rollen, und Brüssel sorgt für zusätzliche Wogen.

Das Kanada-Abkommen namens Ceta bringt nicht nur eine Freihandelszone mit den Nordamerikanern, es werden damit auch Subventionen, Patente, Unternehmensbeteiligungen und nicht zuletzt der umstrittene Investitionsschutz paktiert. Und: Ceta gilt als Blaupause für das geplante Handelsabkommen mit den USA. Seit Jahren gehen Umweltschützer, Globalisierungsgegner oder einfach besorgte Bürger auf die Straße, um die Globalisierungsturbos zu entschärfen. Und die EU? Sie will die Projekte an den nationalen Parlamenten vorbeischwindeln.

Zur Klarstellung: Ceta und TTIP können wichtige wirtschaftliche Impulse bringen und die Beziehungen zwischen EU und Nordamerika intensivieren. Es mag sogar juristisch legitim erscheinen, die Vereinbarungen als reine Handelsabkommen zu definieren, womit die Entscheidung den europäischen Institutionen vorbehalten wäre. Und ja – um mit Österreichs Kommissar Johannes Hahn zu sprechen: Die EU ist nicht plötzlich zu einer Diktatur geworden. Doch die Sorgen der Bevölkerung, ob irrational oder berechtigt, ernst nehmen heißt: die Legitimierung erhöhen und die Prozesse transparent machen. Von beidem ist die Union weit entfernt. Hier geht es um politische, nicht um rechtliche Fragen.

Zudem legt sich Juncker mit zahlreichen Mitgliedern, darunter Deutschland und Österreich, an und riskiert damit erst recht ein kolossales Scheitern der Freihandelsabkommen. Nach der Abfuhr beim Gipfel kommen jetzt Signale, wonach Brüssel noch einmal in sich gehen wolle. Doch der Schaden ist bereits angerichtet.

Die Auflösungserscheinungen der Union sind jedenfalls unübersehbar. Beim Herbizid Glyphosat schieben die Mitgliedsstaaten den schwarzen Peter der EU-Kommission zu, der aufgrund der wissenschaftlichen Fakten gar keine Alternative zur Verlängerung der Zulassung bleibt. Dann wird wieder versucht, Mitgliedsstaaten in der Flüchtlingskrise ins Eck zu stellen. Es gibt – wie immer – viele gute Gründe für die geplanten Maßnahmen, insbesondere jenen der notwendigen Solidarität.

Die Abgabe von Souveränität kann Europa stärken. Doch Integration lässt sich nicht mit der Brechstange erzwingen, sondern erfordert Überzeugungsarbeit und Einbindung. Eigentlich genau das, wovon EU-Politiker immer sprechen. (Andreas Schnauder, 29.6.2016)