Labour-Chef Jeremy Corbyn verlor am Dienstag das Vertrauen zahlreicher Labour-Abgeordneter.

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Die Niederlage war erwartet worden. Doch dass sie so vernichtend ausfallen würde, das hatte wohl auch Jeremy Corbyn selbst nicht vermutet. 172 von 229 Parlamentsabgeordneten der britischen Labour-Partei sprachen sich bei einer Vertrauensabstimmung am Dienstag gegen den Parteichef aus. Das sind 81 Prozent.

Bereits tags zuvor war die Spaltung, die unter der Oberfläche schon lange bestand, nach oben gedrungen. Die Abgeordneten werfen Corbyn vor, sich nicht ausreichend für den Verbleib in der EU starkgemacht zu haben. Bei einer Besprechung zwischen der Labour-Parlamentsfraktion und Corbyn kam es zu Schreiduellen. Stunden später beteiligte sich der Vorsitzende im Londoner Zentrum an Großprotesten gegen seine Abgeordneten.

Nach dem Votum setzte sich der Streit fort. Die internen Bestimmungen der Labour-Partei sehen keine Misstrauensvoten gegen den Parteichef vor. Corbyn betrachtete das Resultat der Abstimmung daher als hinfällig. Einen Rücktritt lehnte er ab. Es sei jetzt nötig zusammenzustehen, heißt es in einem Statement. "Ich wurde demokratisch von 60 Prozent der Parteimitglieder gewählt, um eine neue Politik zu machen, und ich werde sie nicht verraten".

Interner Verfassungsstreit

Dauerhaft wird er sich einer internen Debatte aber nur schwerlich verschließen können. Seine Gegner sammeln parteiintern bereits die nötigen Unterschriften, um eine Neuwahl des Parteichefs einzuleiten. Ob Corbyn in diesem Fall überhaupt noch einmal antreten können wird, ist nicht ganz klar: Eigentlich sind für eine Kandidatur die Unterschriften von 50 Abgeordneten oder EU-Abgeordneten nötig. Nur 40 Westminster-Parlamentarier haben sich bei der Vertrauensabstimmung am Dienstag für ihn ausgesprochen. Corbyn selbst geht allerdings davon aus, dass er bei einem solchen Votum als amtierender Parteichef automatisch antreten dürfte.

Er ahnt, dass die Zeit für ihn spielt. Für die Labour-Parlamentarier kann es hingegen nicht schnell genug gehen. Sie fürchten, dass ein neuer konservativer Premier im Herbst Neuwahlen ansetzen könnte. Mit dem aktuellen Parteichef drohe in diesem Fall "eine vernichtende Niederlage", zitierten Medien Parteistrategen. Abgeordnete bezweifeln, dass der linke Parteichef, dessen eigener Parlamentssitz im Londoner Stadtteil Islington als sicher gilt, weiß, wie man Wähler aus der Mitte für sich überzeugt.

Schon in den vergangenen Tagen hatten sie daher eine Kampagne gegen Corbyn gestartet. Mitglieder seines Schattenkabinetts waren vor allem am Wochenende in einer derart großen Zahl fast zeitgleich zurückgetreten, dass der Eindruck entstand, Corbyn komme mit Nachnominierungen fast nicht mehr hinterher.

Absichtliche Sabotage

Mehrere Medien zitierten zudem aus internen E-Mails der Kampagne für einen EU-Verbleib. Diese, so Corbyns Gegner, bewiesen, dass der Parteichef die Bemühungen bewusst sabotiert habe.

So ließ der 67-Jährige laut Guardian und BBC den von der Labour-Kommunikationsabteilung vorgeschlagenen Satz "Labour wird dafür kämpfen, dass Großbritannien in der EU bleibt, um Jobs, Wachstum, Handel, Investitionen und die Arbeiter zu schützen" ersatzlos streichen. Aus dem Satz "Ich, mein Schattenkabinett, die Gewerkschaft und unsere Mitglieder sind überzeugt, dass es im Interesse des Landes ist, in der EU zu bleiben" ließ Corbyn demnach alle Verweise auf sich selbst und sein Schattenkabinett entfernen.

Und auch nach der für alle Seiten unerfreulichen Unterredung vom Montag tat Corbyn wenig, um die Situation zu entschärfen. Nach dem angespannten Treffen mit den Parlamentariern ging er zu einer Demonstration von rund 10.000 seiner Unterstützer in der Nähe des Parlaments. Dass diese statt mit Labour-Bannern mit jenen der Sozialistischen Arbeiterpartei auftraten, sorgte bei vielen Labour-Mitgliedern für weitere Irritation. (Manuel Escher, 29.6.2016)