Philosoph und Kulturhistoriker Philipp Blom.

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Demonstration gegen den Brexit – für die Identität junger Leute seien Nationalstaaten nicht mehr so wichtig, meint Philipp Blom. Doch könne Freiheit auch als Zwang und Entwurzelung empfunden werden.

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STANDARD: Sie haben lang in Großbritannien gelebt. Hat Sie der Ausgang des Referendums überrascht?

Blom: Völlig, muss ich gestehen. Einerseits hatte ich gehört, dass die Wettbüros davon ausgehen, dass Großbritannien bleibt – und die können normalerweise mit ihrem Geld gut umgehen; und zweitens habe ich gedacht, dass am Ende das wirtschaftliche Interesse entscheidend sein wird.

STANDARD: Der britische Sonderweg in Europa ist jahrhundertealt. Wo liegen seine Wurzeln?

Blom: Na zum Beispiel schon bei der Magna Carta von 1215, bei dieser sehr frühen Urkunde demokratischer Mitbestimmung. Dann gab es den Sonderweg der anglikanischen Kirche. Und natürlich hatte das spätere Empire ein Fünftel der Erdbevölkerung unter seiner Kontrolle. Ich habe mich einmal mit einem 80-jährigen Mitglied des House of Lords unterhalten, der mir gesagt hat: "Für mich ist Bombay natürlich näher als Paris." Die mentale Geografie war von vornherein eine andere.

STANDARD: Der französische Politiker Jacques Baumel hat einmal gesagt, für die Briten sei der Ärmelkanal breiter als der Atlantik.

Blom: Er ist zumindest gleich breit, ja. Großbritannien verortet sich mental sicherlich irgendwo in der Mitte des Atlantiks. Dass aber Allianzen zu seinen unmittelbaren Nachbarn etwas ganz Natürliches sein sollten, wird Großbritannien jetzt zu erheblichen Kosten lernen müssen.

STANDARD: Als Kulturhistoriker kennen Sie die Mentalitäten der Europäer. Wie viel britische Mentalität war denn bei diesem Referendum dabei?

Blom: Referenden sollte man wahrscheinlich nur in Gesellschaften durchführen, die eine entsprechende Kultur für solche Volksentscheide haben. Ansonsten werden solche Abstimmungen sofort dazu benutzt, der Regierung wegen allen möglichen anderen Dingen einen Dämpfer zu geben. Gerade bei den Geringverdienenden hat David Cameron enorme Kahlschläge gemacht, ganze Regionen wurden wirtschaftlich verkrüppelt. Es ging so weit, dass Bibliotheken geschlossen wurden – und die werden in Großbritannien nicht nur zum Lesen verwendet, sondern auch zum Wärmen im Winter. Jetzt kam Cameron mit dieser völlig sinnlosen Idee des Referendums. Es gab nicht einmal ein Volksbegehren in diese Richtung, er wollte lediglich den rechten Flügel seiner Partei befrieden. Großbritannien hat sich gigantisch ins Knie geschossen. Gerade für die Jungen wird das sehr harte Konsequenzen haben.

STANDARD: Die Jüngeren haben mit großer Mehrheit für den Verbleib gestimmt und fühlen sich von der älteren Landbevölkerung verraten. Ein Schlag ins Gesicht der vielbeschworenen Erasmus-Generation?

Blom: Die demografischen Muster zur österreichischen Bundespräsidentenwahl sind übrigens sehr ähnlich. Es ist ein Schlag ins Gesicht der Sparpolitik David Camerons, würde ich sagen. Die älteren Wähler wollten den Jungen sicherlich nichts verbauen. Aber genau das haben sie getan. Denn klarerweise sind die Jungen nicht glücklich, wenn sie jetzt nicht wie gewohnt reisen, studieren oder in der EU arbeiten können.

STANDARD: Dass die Jungen für den Verbleib waren, beweist aber auch, dass die EU-Bildungsinstrumente und der kulturelle Austausch funktionieren oder?

Blom: Das müsste man sich genauer ansehen. Ich weiß nicht, ob es jetzt am Bildungsgrad liegt oder einfach daran, dass für junge Leute Nationalstaaten nicht mehr so wichtig sind, dass sie mobiler sind und sich ihre Kultur auch aus anderen Erdteilen holen. Ich glaube, junge Menschen konstruieren ihre eigene Identität anders, nicht mehr so begrenzt auf einen eigenen Nationalstaat. Der Vertrag von Schengen ist ja etwas wahnsinnig Lebensmächtiges, wenn ich weiß, ich kann nach Lust und Laune in ein anderes Land fahren, wo Leute eine andere Sprache sprechen, und ich brauche noch nicht einmal einen Pass dafür. Das müsste man ja eigentlich ausbauen. Ich fände es wunderbar, wenn es etwa ein soziales Jahr für alle jungen Europäer in einem anderen Land gäbe. Sodass jeder die Normalität des Andersseins erleben kann. Ein Versäumnis der EU ist es, dass sie ihre Vorteile für die Menschen nicht deutlich genug hervorstreicht.

STANDARD: Ein starkes Motiv war aber offenbar auch die Flüchtlingskrise.

Blom: Ja, aber vergessen Sie nicht, dass sich die meisten europäischen Länder der "Lösung Merkel" ja jetzt schon verweigert haben. Es gibt also keinen Grund, deswegen aus der EU auszutreten, denn dieser Schwenk ist schon geschehen. Großbritannien wird außerdem weiterhin Arbeitsmigration erlauben müssen. Gerade große Probleme wie die Flüchtlingskrise und der Klimawandel brauchten einen großen Pool an Akteuren. Wenn man schon kein sentimentaler Europäer ist, müsste einen das zumindest zum pragmatischen Europäer werden lassen. Ein einziger Nationalstaat hat auf diese Fragen überhaupt keine Antworten mehr und keinerlei Gewicht in Verhandlungen mit China oder den USA.

STANDARD: Braucht es mehr "sentimentale Europäer", wie Sie es nennen?

Blom: Nicht unbedingt. Man kann auch sagen: "Ich mag meinen Nachbar nicht, aber den Garten müssen wir trotzdem gemeinsam mähen." Man muss nicht alle anderen lieben, aber man sollte sehen, dass wir gemeinsame Interessen haben.

STANDARD: Durchaus sentimental waren die mehr als 300 Kulturschaffenden, von Tracey Emin bis Vivienne Westwood, die sich für den Verbleib ausgesprochen haben. Sie fürchten um Förderungen und die grenzüberschreitende Kooperation.

Blom: Diese Ängste sind absolut berechtigt. Großbritannien hat eine starke Kulturszene, aber Kultur lebt vom Austausch und nicht von Isolation. Das hat auch praktische Probleme, etwa wenn Sie mit einem Orchester durch Europa touren wollen – das wird wohl wesentlich bürokratischer und damit teurer. Diese identitäre Opposition, zwischen Nigel Farage und dem rechten Flügel der Tories, interessiert das natürlich nicht. Wenn 300 Künstler gegen den Brexit aufstehen, dann sind das genau die Feindbilder, gegen die diese Menschen eigentlich stimmen wollen. Da heißt es dann: "Die von der Elite wollen bleiben. Also stimmen wir dagegen."

STANDARD: Michael Dobbs, Tories-Politiker und Autor der literarischen Vorlage für die Politserie "House of Cards", meinte, das britische Kulturschaffen sei kein Verdienst der Europäischen Union. Mit Blick auf die Popmusik muss man wohl sagen, dass das stimmt, oder?

Blom: Das schon. Auch die Wiener Philharmoniker sind kein Verdienst der EU. Aber all diese Kulturschaffenden arbeiten besser, wenn sie sich im intensiven Austausch mit ihren europäischen Kollegen befinden.

STANDARD: Könnten leistbare Städte wie Berlin oder auch Wien jetzt kulturell profitieren, indem sie noch mehr Künstler anziehen?

Blom: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Man weiß zwar noch überhaupt nicht, wie Reisefreiheit oder Steuern in Zukunft nach diesem Brexit geregelt werden. Aber wenn einem als Künstler sein europäisches Publikum wichtig ist, dann wäre der Umzug nach Berlin oder Wien sicherlich eine Option. Auch die Wohnungsnot in GB wird durch den Brexit nicht gelöst.

STANDARD: Die gesamte Sprachausbildung hat sich in Kontinentaleuropa nach britischem Englisch orientiert. Wird sich das ändern?

Blom: Ich glaube, dass das amerikanische Vorbild stärker werden wird. Weil es durch Hollywood und die Popkultur sowieso schon viel weiter vorgedrungen ist. Wenn Sie englischsprechenden Jugendlichen in Österreich zuhören, dann sprechen die vielleicht eher mit britischem Akzent, aber mit amerikanischer Intonation und amerikanischem Wortschatz.

STANDARD: Die Probleme der EU sind multipel: Angst vor Zuwanderung im Osten, ökonomische Notlagen im Süden, Konflikte vor der Haustür, Terrorgefahr und Polarisierung an den politischen Rändern. Mit Anspielung auf ihr Buch: Ist der Kontinent wieder ins Taumeln gekommen?

Blom: Ich glaube, er könnte ganz fürchterlich ins Taumeln kommen, denn diese Probleme sind groß. Es gibt sicherlich keine gute Lösung für die Migrationskrise: Denn einerseits müssen die europäischen Länder ihren sozialen Frieden bewahren und können daher nicht alle Menschen hereinlassen, die kommen wollen. Andererseits haben wir natürlich eine humanitäre Verantwortung für Menschen, die Not leiden. Und das wird immer ein Weg mit Kompromissen sein müssen. Nur hoffentlich nicht so, dass wir Leute wie Erdoğan dafür bezahlen, dass er Flüchtlinge an den Grenzen mit Waffengewalt abhält. Wir sind aufgewachsen mit 60 Jahren Frieden und steigendem Wohlstand, und wir sehen das als die natürliche Ordnung der Dinge an. Nur ist das eigentlich nie die natürliche Ordnung der Dinge gewesen, denn das waren Not und Krieg.

Wir glauben, dass wir ein Menschenrecht darauf haben, in Ruhe und Wohlstand zu leben. Aber das wird sich ändern. Die Konzeption der Menschenrechte ist noch so jung. Die könnten sehr schnell wieder verschwinden. Es gibt genügend Bewegungen in Europa, die diese Rechte anzweifeln. Und das sind keine Spinner, die bald wieder verschwinden werden. Ich glaube: Wenn wir in dieser aufgeheizten Stimmung noch eine Finanzkrise wie 2008 erleben, dann könnte ganz Europa eine gigantische Weimarer Republik werden, in der kaum noch funktionierende Staaten versuchen, riesige Spannungen auszuhalten. In den vergangenen Jahren ist vieles passiert, was kluge politische Beobachter niemals für möglich gehalten hätten. Wir wären daher töricht zu glauben, dass so etwas wie ein europäischer Bürgerkrieg nicht wieder passieren könnte.

STANDARD: Wie wichtig wäre ein noch engeres Zusammenrücken von Frankreich und Deutschland?

Blom: Eine schwierige Frage. Braucht Europa eine Art Motorblock, der das Ding antreibt? Denn dieser Block stottert ganz gewaltig. Frankreich ist im Moment so blockiert, dass es möglicherweise gar nicht die Energien hätte, das europäische Projekt weiterzutreiben. Und dann bliebe es durch eine historische Absurdität wieder an der deutschen Kanzlerin hängen. Die ist zwar nicht dafür gewählt, europäisches Staatsoberhaupt zu sein. Aber nolens volens nimmt sie das wahr, weil es niemand anderen gibt, der das kann. Weil sie die Wirtschaftsleistung hinter sich hat, die genau das möglich macht. Aber das ist natürlich nicht das, was eine demokratische Union sein soll. Die Alternative dazu findet derzeit keine Mehrheit.

STANDARD: Vereinigte Staaten von Europa?

Blom: Genau das brauchen wir, wenn wir handlungsfähig sein wollen. Ich glaube, Europa steht vor drei großen Herausforderungen: ein instabiles Russland, das die Bedrohung eines Krieges wieder aufziehen lässt, die Digitalisierung, die uns Millionen an Arbeitsplätzen kosten wird, und die Sekundärfolgen des Klimawandels. Das sind Sachen, die ein einzelner Nationalstaat nicht schaffen kann.

STANDARD: Unlängst haben Sie mit Blick auf Islamisten und Rechtspopulisten vor einer "Kultur der Verengung" gewarnt.

Blom: Es hat sich eine neue politische Spaltung ergeben. Und die verläuft nicht zwischen säkular und religiös oder rechts und links, sondern zwischen einem "liberalen Traum" und einem "autoritären Traum". Dieser liberale Traum, der auf der Aufklärung und der Freiheit des Individuums aufbaut, der ist das, was unsere demokratischen Staaten geschaffen hat. Aber er kann natürlich auch ökonomisch gedeutet werden. Das heißt, als die Freiheit des Starken gegen die Schwachen. Und dann haben wir die heutige neoliberale Situation, wodurch sich eine enorme Spaltung der Gesellschaft ergibt.

Und dann hat dieser liberale Traum auch noch einen Fehler, und das ist jener, dass Freiheit auch als Zwang empfunden werden kann. Freiheit heißt auch Entwurzelung. Auf Englisch unterscheidet man in "Sense of Space" und "Sense of Place" – der liberale Traum hat einem den Space, den Raum um sich herum, ermöglicht, aber den Place, die Identität, die Herkunft, zum Teil geraubt. Das ist ein schwieriger Lebensentwurf, der viele Menschen überfordert. Der autoritäre Traum, der nicht in Individuen, sondern in Kollektiven – Völker, Nationen oder Religionen – denkt, der gibt vor, dazu eine Alternative zu bieten. Dieser Traum verbindet die Rekruten vom IS ("Islamischen Staat", Anm. d. Red.) mit den identitären Bewegungen in Europa, aber auch mit Donald Trump, Putin oder Erdoğan.

STANDARD: Wie kann die liberale Mitte dagegen argumentieren?

Blom: Sehr schwer. Denn Menschen wählen mit ihrem Bauch, nicht mit dem Kopf. Wir müssten wieder ein Klima schaffen, in dem mehr Menschen wieder eingebunden werden in ein Hoffnungsnarrativ. Das ist die Herausforderung.

STANDARD: Eine dieser identitären Gruppen hat in Österreich zuletzt mit antiislamischen Aktionen in Kultur- und Bildungseinrichtungen für Aufsehen gesorgt. Wird hier der Versuch unternommen, die tendenziell linksliberale Hegemonie im kulturellen Feld zu stören?

Blom: Ja sicherlich. Denn in gewisser Weise gibt es diese Hegemonie natürlich. Wir linksliberalen Menschen glauben, dass das so ist, weil wir mehr analysieren und auf Fakten schauen. Aber es geht auch darum, dass das kulturelle Feld auf eben diesem internationalen Austausch basiert, der den identitären Kräften ein Dorn im Auge ist.

STANDARD: Wie sollten Kultureinrichtungen mit solchen Kräften umgehen? Den Dialog führen, sie ignorieren oder dagegen ankämpfen?

Blom: Es gibt Identitäre von höflichen Universitätsprofessoren bis hin zu kahlen Neonazis. Daher glaube ich, dass man das selbstständig von Fall zu Fall entscheiden muss. Zu Debatten gehört jedenfalls die gegenseitige Bereitschaft, auf Basis von Fakten zu kommunizieren. Demokratie baut darauf auf, dass man mit Menschen spricht, die nicht derselben Meinung sind, und einen Kompromiss findet, der offene Gewalt verhindert. Es wird kein Patentrezept für den sozialen Frieden geben. Aber wir müssen versuchen deutlich zu machen, dass offene Gesellschaften stärkere Gesellschaften sind. Und dass diese Offenheit tatsächlich Vorteile für jeden bringt und nicht nur bessere Theateraufführungen. Aber wenn man aufhört, miteinander zu sprechen, dann hat man eine gespaltene Gesellschaft.

STANDARD: Wie in der Zwischenkriegszeit.

Blom: Ja. Und von dieser Zeit trennt uns im Moment nur Wohlstand. Und der kann sehr schnell dahin sein. Wir leben in einer Welt, die auf Hyperspekulation aufgebaut ist. Und aus dieser Blase muss immer wieder die Luft rausgelassen werden. Und wenn das das nächste Mal passiert, kann es gut sein, dass wir einer echten europäischen Bürgerkriegsgefahr entgegensehen. (INTERVIEW: Stefan Weiss, 27.6.2016)