Bohuslav Sobotka ist tschechischer Premierminister – er warnt vor einer neuen Welle des Nationalismus und Separatismus

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Sobotka ist trotz des Brexit-Votums zuversichtlich: "Bis jetzt hat es die EU geschafft, ihre Krisen zu überwinden." Die EU müsse aber mehr auf die einzelnen Länder eingehen

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STANDARD: Was bedeutet für Sie die Entscheidung der Briten zum Austritt aus der Europäischen Union?

Sobotka: Es beginnt eine neue Etappe der europäischen Integration. Europa ist auch für Tschechien die beste Garantie für Stabilität und Frieden. Aber die EU muss handlungsfähiger werden, flexibler, weniger bürokratisch. Ich hätte mir gewünscht, dass die Briten in der EU bleiben. In der globalisierten Welt entstehen neue Zentren des politischen und wirtschaftlichen Einflusses. Wenn Europa seine Bedeutung behalten will, sollte es nicht anfangen, sich zu spalten und dadurch selbst zu schwächen. Trotzdem ist die Entscheidung nicht das Ende der Welt – und auch nicht das Ende der EU.

STANDARD: Die Kampagne vor dem Referendum wurde zum Teil sehr aggressiv geführt, viele sprachen von einer Spaltung des Landes. War es richtig, das Referendum überhaupt durchzuführen?

Sobotka: Ich will mich nicht in die Politik des britischen Premiers einmischen, und schon gar nicht in die internen Debatten der britischen Konservativen. Aber wenn das Referendum in erster Linie motiviert war durch den Versuch, die Konservativen vor den letzten Parlamentswahlen zu einen, dann ist der Preis, den Großbritannien jetzt dafür zahlt, relativ hoch.

STANDARD: Und welchen Preis wird die EU bezahlen?

Sobotka: Ich fürchte, dass Europa eine Welle von Separatismus und Nationalismus erlebt. Wir müssen aber bereit sein, dem die Stirn zu bieten. Ich glaube, wir haben eine ganze Reihe von starken Argumenten dafür, mit dem europäischen Projekt fortzufahren. Unter anderem deshalb, weil die EU die beste Versicherung dagegen ist, dass sich die Gräuel des 20. Jahrhunderts wiederholen.

STANDARD: Über die tiefe Krise der EU wird nicht erst seit der Brexit-Debatte gesprochen. Auch Flüchtlingskrise und Eurokrise gelten als Ursachen. Wird Europa durch diese Krisen schwächer oder stärker?

Sobotka: Bis jetzt hat es die EU geschafft, ihre Krisen zu überwinden. Vielleicht würde sie für ihre Leistungen nicht immer Bestnoten bekommen, aber wichtig ist das Ergebnis. Wenn es gelungen ist, Griechenland in der EU und in der Eurozone zu halten, dann ist das ein Ergebnis, das zählt. Doch viele Entscheidungen werden getroffen, ohne die Situation in den einzelnen Ländern zu beachten. Dadurch wendet sich die öffentliche Meinung – oftmals unnötig – gegen die EU.

STANDARD: Als Belastungstest für die EU gilt vor allem die Flüchtlingskrise. Warum ist Tschechien gegen die Verteilung von Migranten in Europa?

Sobotka: Tschechien war gegen verpflichtende Quoten, hat aber nicht dagegen geklagt. Wir haben die Mehrheitsentscheidung im Innenministerrat vergangenen Herbst als einmaligen Notmechanismus verstanden, den wir nicht behindern wollten. Wir verteidigen aber das Prinzip der Freiwilligkeit. Die Regierungen sind ihren Bürgern verantwortlich und müssen in dieser Angelegenheit das letzte Wort haben.

STANDARD: Bei vielen Menschen in Europa bringt Ihnen das den Vorwurf ein, unsolidarisch zu sein.

Sobotka: Nationalisten in Tschechien und anderen Ländern wurden gerade durch das verpflichtende Element bei der Verteilung von Flüchtlingen gestärkt. Ich habe mich bemüht, den Partnern in Westeuropa zu erklären, dass ein Beharren auf verpflichtenden Quoten nur Wasser auf die Mühlen derer ist, die Europa spalten wollen. Das hat sich leider bewahrheitet. Es wurde daraus politische Nahrung für Extremisten, was meiner Meinung nach nicht nötig gewesen wäre. Wir haben signalisiert, dass wir durchaus bereit sind, auf freiwilliger Basis zu helfen.

STANDARD: Tschechiens Präsident Miloš Zeman schlägt in der Flüchtlingsfrage einen schärferen Ton an. Wodurch unterscheiden Sie sich voneinander?

Sobotka: Präsident Zeman sprach sich für nationale Maßnahmen aus. Dieser Illusion bin ich nie erlegen. Die Flüchtlingskrise kann kein Land alleine bewältigen. Sie erfordert ein gemeinsames Vorgehen. Dass wir uns mit der Türkei geeinigt haben, hat etwa dazu beigetragen, den Migrationsdruck in Mitteleuropa zu vermindern. Der Präsident war da skeptisch und wollte sich lieber auf nationale Lösungen an den tschechischen Grenzen verlassen.

STANDARD: Als Ihre Regierung 2014 angetreten ist, wurden die Beziehungen zu Österreich zur außenpolitischen Priorität erklärt. Welche Zwischenbilanz würden Sie ziehen?

Sobotka: Ich habe ein gutes Gefühl. Wir konzentrieren uns auf die Lösung konkreter Probleme, vor allem im Bereich der Anbindung der Infrastruktur in den Bereichen Verkehr und Energie. Ich glaube, die Beziehungen sind besser geworden – obwohl die Situation gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise nicht einfach war. (Gerald Schubert, 26.6.2016)