Willi Dorners "every-one".

Foto: Bernhard Müller

"Black Marrow" von Erna Ómarsdóttir und Damien Jalet.

Foto: Bjarni Grímsson

Salzburg – Durch gelbgraue Wolken zucken Blitze. Böige Brisen wirbeln Regenschleier vor sich her, die Tänzerinnen und Tänzer sind aufgewärmt. Unter dem Vordach eines Supermarkts steht am frühen Samstagabend unerschrockenes Publikum eng zusammen. Kräftiges Donnern rollt über diese Szene im Salzburger Stadtteil Lehen hinweg. Unter diesen Bedingungen hätte Willi Dorner die Uraufführung seiner neuen Stadtraum-Performance every-one beim Sommerszene-Festival spontan absagen können, ohne auf Widerspruch zu stoßen.

Doch der risikofreudige Wiener Choreograf meint, er wolle wenigstens den Anfang zeigen. Allgemeine Zustimmung. Wer sich auf zeitgenössischen Tanz einlässt, muss ohnehin auf einiges gefasst sein. Ums Eck, halb unter dem hohen Durchgang eines großzügigen Gebäudes, sind fünf Frauen und drei Männer in Reih und Glied aufgestellt – alle in akkuraten, wenn auch verkehrt herum angezogenen weißen Blusen sowie steifen Röcken, Kniestrümpfen und flachen Schuhen in Dunkelgrau.

Die Gruppe legt mit einem heiteren Synchrontanz los – und sie wird ihre Sache durchziehen. Erstens, weil der Regen etwas nachlassen, und zweitens vielleicht auch, weil Blitz und Donner ohnehin zu den Turbulenzen der 1920-er Jahre passen, deren kulturelle Berg- und Talfahrten das Leitmotiv von every-one bilden.

Das Publikum folgt den Darstellern, die durch die Vorstadtstraßen eilen und mit auf Papier gedruckten Worten spielen, bevor sich in einem nahegelegenen Park 19 zusätzliche Tänzer zeigen. Aus der Gruppe wird ein Trüppchen, das die unheimliche Ambivalenz der in die Gegenwart gespiegelten Roaring Twenties durch die Salzburger Vorstadt-Wohngebiete bis hin zur Stadtbibliothek trägt. Dort wird zur Musik von George Antheil für Fernand Légers Ballet mécanique (1924) ein zackiger Formationstanz gezeigt, später mündet ein Revuetanz à la Busby Berkeley zwischen zwei Reihen von PKW-Garagen in eine Stechschrittparade.

Krisenzeiten

Doch damit ist der Höhepunkt des Unheimlichen an diesem Abend noch nicht erreicht. Denn im Republic-Gebäude hat sich die Iceland Dance Company unter der Leitung von Erna Ómarsdóttir eine finstere Kaverne gebaut. Was Dorner mit einem schlüssigen historischen Konzept – der Verwandtschaft zwischen den 1920-ern und der Gegenwart – durch die Stadt dirigiert, lockt Ómarsdóttir zusammen mit ihrem Ko-Choreografen Damien Jalet unter dem Titel Black Marrow ins Scheinwerferlicht der Theaterbühne: die in Krisenzeiten wachsende Gier von Gemeinschaften nach ihrer Umwandlung in soziale Maschinen. Damals waren diese mechanisch. Heute sind sie digital.

Black Marrow beginnt wie die Bühnenversion einer Horrorfilmszene. Unter einer schwarzen Haut auf dem Bühnenboden krabbeln rätselhafte Wesen. Plastikfolien-Schaben rascheln. Zu Raubkatzengrollen folgt die Geburt kopfloser Tiermenschen, die sich instinkthaft ineinanderballen. Sie scheinen gemeinsam eine Kreatur formen zu wollen, lösen sich aber doch voneinander und verändern ihre Formation in die eines Menschenmechanismus. Erna Ómarsdóttir ist eine draufgängerische Alchemistin der Zeichen. Als solche schreckt sie keine Sekunde vor dem Pathos zurück, das sich einstellt, wenn die Hoffnung im Kranken, die Ekstase an der Apokalypse oder eine Lust am Schrecken in Erscheinung gebracht werden.

Dorner bewegt sich konzeptuell aufgeräumt entlang der ersten Avantgarde, während Ómarsdóttir und Jalet als Referenz-Messies tausendundeinen Zusammenhang in ihr Stück jagen. Beide Arbeiten zeigen, wie sehr Gemeinschaften in innere Widersprüche eingespannt sind und wie schwer sie an diesen tragen. (Helmut Ploebst, 26.6.2016)