Bild nicht mehr verfügbar.

Gab am Tag nach dem Brexit-Referendum seinen Rücktritt bekannt: David Cameron.

Foto: REUTERS/Stefan Wermuth

Als mit dem Premierminister auch seine Frau Samantha auf die sonnenbeschienene Downing Street vor dem Amtssitz des britischen Regierungschefs tritt, wissen die versammelten Journalisten, was die Stunde geschlagen hat. Für eine politische Erklärung bräuchte David Cameron den privaten Halt nicht; es geht also um ihn persönlich.

Zunächst aber zeigt der 49-Jährige an diesem Freitagmorgen noch einmal, warum er oft wie geschaffen wirkte für das höchste Regierungsamt der fünftgrößten Industrienation der Welt. Er rühmt die demokratische Teilhabe der Briten, lobt sein eigenes Lager und macht den Brexit-Befürwortern artig ein Kompliment für deren "schwungvolle und leidenschaftliche" Kampagne. Inmitten der Marktturbulenzen – das Pfund und der Londoner Börsenindex FTSE sind abgesackt – wolle er zur Stabilisierung beitragen. Es sei jedoch eine neue Führung gefragt. Bis zum konservativen Parteitag Anfang Oktober solle ein neuer Vorsitzender feststehen: "Ich glaube nicht, dass ich der richtige Kapitän bin, der unser Land an sein neues Ziel steuert." Ganz zum Schluss bricht dem Mann im blauen Maßanzug kurzzeitig die Stimme. Er liebe dieses Land, verkündet Cameron. "Es war mir eine Ehre, es anzuführen." Spricht's und verschwindet hinter der berühmten schwarzen Tür mit der Nummer 10.

33,5 Millionen an den Urnen

Spätestens in diesem Moment wird deutlich: Die knappe Entscheidung der Briten für den Austritt aus der EU hat das Land von Grund auf verändert, einen Premier gestürzt, der erst vor 14 Monaten überraschend ein zweites Mandat, diesmal für die konservative Alleinregierung, gewonnen hatte. 33,5 Millionen Wahlberechtigte sind am Donnerstag an die Urnen geeilt, im Südosten des Landes, besonders in London, mussten sie sich oft durch starke Gewitterschauer kämpfen. Eine Beteiligung von 72 Prozent, das hat es zuletzt bei der Unterhauswahl 1992 gegeben. Erkennbar brannte das Thema vielen Menschen unter den Nägeln. Am Ende ist das Ergebnis klar: 51,9 Prozent "Leave" zu 48,1 Prozent "Remain", eine Mehrheit für den Brexit, ein Abstand von mehr als einer Million.

Dabei hatten Donnerstagabend alle Anzeichen in die andere Richtung gedeutet. Aus der City werden Gewinne für das Pfund gemeldet, die letzten Umfragen sprechen von einer Pro-EU-Mehrheit. Unmittelbar nach Schließung der Wahllokale meldet sich der Nationalpopulist Nigel Farage von Ukip zu Wort. "Remain" habe knapp gewonnen. Die Wählernachbefragung von YouGov spricht erneut von einer 52:48-Remain-Mehrheit, so melden es bald darauf die Spätausgaben der Zeitungen.

Und dann ist alles anders. Nach dem Auftakt der Auszählung in Gibraltar – die Kronkolonie auf der Iberischen Halbinsel votiert mit überwältigender Mehrheit für die EU – stürzen kurz nach Mitternacht schon die ersten Ergebnisse aus England das Verbleibe-Lager in Depressionen. Die frühere Industrie- und heutige Universitätsstadt Newcastle an der Nordsee bringt noch ein knappes Ergebnis zugunsten Remain, das benachbarte Sunderland hingegen votiert eindeutig für den Brexit.

Schlangen vor Wahllokalen

Es scheint sich zu bewahrheiten, wovon der im April im Streit mit Cameron zurückgetretene Sozialminister Iain Duncan Smith in Interviews schwärmt: In den Sozialsiedlungen, wo sich bei Unterhauswahlen höchstens 40 Prozent an die Urne bemühen, hätten sich diesmal lange Schlangen vor den Wahllokalen gebildet und liege die Beteiligung bei 70 Prozent.

Das Land ist gespalten: Während die Hauptstadt London, Schottland und Nordirland mit teils deutlicher Mehrheit für den Verbleib votieren, räumen die EU-Feinde in allen englischen Regionen, vor allem im ländlichen Raum entlang der Ostküste sowie in Cornwall, ab.

Mit einigen Daten behalten die Demoskopen immerhin recht: Tatsächlich votieren Menschen im Rentenalter über 65 klar für den Brexit, junge Leute unter 30 mehrheitlich dagegen. Es ist der Aufstand der Provinz gegen die Metropolen, des Prekariats gegen die gebildete Mittelschicht, der weißen Kleinbürger und Handwerker gegen die multikulturelle Identität ihres Landes. Nicht ganz zufällig erwähnt Cameron in der kurzen Ansprache die Einführung der Ehe für alle als eine der wichtigsten Errungenschaften seiner Amtszeit. Und er spricht davon, sein Land sei zwar "nicht perfekt", tauge aber als Modell für die postmoderne "multiethnische, multireligiöse Gesellschaft". (Sebastian Borger aus London, 24.6.2016)