Autor Thomas Sautner als Fan in Paris: Liberté, Egalité, Fraternité. Haben die Werte der Aufklärung heute überhaupt noch ein Leiberl?

Foto: Thomas Sautner

Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre glaubten weder an die Ehe noch an Gott. Aber an Fußball glaubten sie. Albert Camus kickte sogar selbst, und Michel Houellebecq unterbricht dieser Tage Interviews, um die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich zu sehen. Wobei es gar nicht nötig ist, ballesterisch großartig interessiert zu sein, um sich das eine oder andere Match reinzuziehen. Denn die Welt ist kompliziert und ungerecht und viel zu oft hässlich, und je mehr uns das fertigzumachen droht, desto mehr ist Fußball die Lösung.

Gewalt und Terrorismus drohen unser Leben zu prägen? Was nun? Fußball! Die Erderwärmung verschlimmert sich? Fußball. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer? Fußball! Die politische Kaste versagt aus Feigheit und Eigennutz? Fußball. Die Arbeitswelt 4.0 samt Automatisation wird Millionen Jobs kosten? Fußball! In Afrika verhungern täglich Kinder? Fußball. Weitere Flüchtlinge suchen Schutz? Fußball. Der letzte Evolutionssprung bei sozialer menschlicher Intelligenz fand scheinbar im Neolithikum statt? Pfeif drauf! Fußball!

Olé – olé – olé – oléééé!!!

Fußball! Fußball! Fußball! Welch herrliche Auszeit von der Welt. Olé – olé – olé – oléééé!!! Wie befreiend, dieser moderne Urschrei im Zeitalter der Umwälzungen, Zwänge und Selbstdisziplinierungen! Welch spontane Rückführung in sorglos simple Zeiten. Archaisch. Stammhirn statt Großhirn. Einfach nur mitfiebern, jubeln, fluchen, brüllen. Und sofort ist alles besser, wenn schon nicht gut.

Den Gegner besiegen. Oder selbst untergehen. Wie erlösend einfach. Religion Fußball. Kyrie eleison! Schlachtgesang!

Fußball. Aufregend sedierendes Wegbeamen. In seiner Wirkung vergleichbar nur mit Sex and Drugs and Rock 'n' Roll.

Fußball. Gewiss, wir verändern die Welt nicht damit. Aber wir machen sie uns erträglicher. Rund um den Globus. Für 90 Minuten plus Verlängerung.

Fußball. Wie wunderbar einfach. Zwei Tore, zwei Teams, und das mit mehr Testosteron und besserer Technik triumphiert.

Funktionieren in einer foul spielenden Welt

Unsere Welt, die große oder unsere kleine, mag aus den Fugen sein, aber hier im Stadion, im Pub, vor dem Fernseher sind wir in Sicherheit. Geborgen eingenistet zwischen Chips und Bier. Und geflissentlich verdrängen wir den Gedanken, bald zurück wieder regelkonform funktionieren zu müssen in einer foul spielenden Welt.

Wir sind nicht nur Zuschauer, wir sind Teil des Teams, der zwölfte Mann. Darum spielt auch nicht unsere gegen diese oder jene Mannschaft. Sondern wir gegen die. Gewonnen oder verloren haben wir. Transzendente Anverwandlung ist das. Einswerdung. Nicht bloß symbolisch. Leibhaftig! Manifestiert in Triumphgeheul und Depression, Dopamin und Tränen.

Entspannen hingegen, nichts als entspannen und loslassen können wir, wenn nicht unser Team auf dem Platz steht, sondern zwei fremde. Dann sind wir lediglich Zuseher, genießen den Spielwitz, die Taktik, den Einsatz, die Raffinessen, Kombinationen. Fußball – schnelles Schach mit Schweiß und Bänderzerrung. Und bedeutend mehr Zugmöglichkeiten.

Fußball. Freilich ist es bedeutungslos. Aber was denn nicht? Freilich ist es albern und nur ein Spiel. Im Grunde nichts weiter als heiße Luft in Leder verpackt. Doch in welch Sphären dieses Spiel einen zu kicken vermag. In welch Zustand wunderbaren Schwachsinns, frei von wichtigtuerischer Schwermut, Grübelei und Entscheidungsnot. "Das Überflüssige", bemerkte Voltaire, "ist eine sehr notwendige Sache."

Fußball statt Bürgerrechte

Im frühsommerlichen Frankreich des Jahres 2016 hat der Fußball freilich noch weitere Facetten. Die Pariser Regierung argumentierte unter anderem mit der EM, um den terrorbedingten Ausnahmezustand zu verlängern. "Brot und Spiele statt Bürgerrechte", ätzen Kritiker. Tatsächlich ist es der französischen Polizei mittels État d'Urgence möglich, ohne richterliche Vollmacht ganze Häuserzeilen auf den Kopf zu stellen, Razzien durchzuführen, Menschen zu durchsuchen, unter Hausarrest zu stellen und sie ohne Anklage wegzusperren.

So geben sich Einheimische wie Touristen dieser Tage also nicht nur dem französischen Wein und dem Fußball hin, sondern auch dem Kriegsrecht. Schulterzuckend und wie schicksalsergeben nehmen die meisten Franzosen hin, dass ihre individuellen Freiheitsrechte beschnitten wurden, und so stehen die Chancen gut, dass das Sondergesetz Ende Juli abermals verlängert wird und damit der Ausnahmezustand zum Zustand gerät. "In Zeiten des Krieges" habe Sicherheit Priorität, argumentiert François Hollande. Und obwohl die Franzosen ihrem Präsidenten in beinahe nichts zustimmen, diesbezüglich stimmen sie ihm zu. Im Rest Europas wäre es gewiss ebenso. Albert Camus aber hätte protestiert. Niemals, warnte der Nobelpreisträger, dürfe man ein Menschenrecht mit Menschenrechtsverletzungen erkämpfen.

Ähnlichkeiten mit der Szenerie in Houellebecqs "Unterwerfung"

Auf dem Place de la République, seit Ende März Treffpunkt der neuen Protestbewegung Nuit debout, fürchten viele, dass Frankreich mit seiner Art, die Freiheitsrechte zu verteidigen, ebenjene Stück für Stück selbst abschafft. Die aktuelle Situation ähnle frappant der Szenerie in Michel Houellebecqs Zukunftsroman Unterwerfung: Verblüffend blauäugig hätten die Bürger demokratische Errungenschaften sowie Teile des Rechtsstaats gegen Bequemlichkeit und ein Quäntchen mehr Sicherheit eingetauscht.

Liberté, Égalité, Fraternité. Ist die Losung aus dem europäischen Geburtsland der Menschenrechte und der Aufklärung nur noch edle Fassade? Freiheit verdamme uns zu Verantwortung, würde der streitbare Jean-Paul Sartre vermutlich antworten. Gleichheit verlange mutige wirtschaftssoziale Reformen, Brüderlichkeit eine Zivilgesellschaft, in der sich endlich alle, auch die Reichen, engagieren. Und dass es ein Gebot der Stunde sei, wie 1789 und 1968 für die universellen Werte einzustehen.

Flanieren als passiver Widerstand

Die meisten Franzosen zeigen ihr Engagement anders. Demonstrativ zelebrierten sie auf den Plätzen und Straßen, in den Bistros und Cafés ihren Willen zu unbedingter Lebenslust und dass sie gedenken, sich ihr Freiheitsgefühl weder von Terroristen noch von Polizisten verderben zu lassen. Konsumieren und Flanieren als passiver Widerstand. Savoir-vivre als gesellschaftspolitische Haltung. Ihre Landsleute, meint eine Französin, täten so, als ließen sie sich von den Umständen nicht die Laune verderben, als seien sie nach wie vor stolz auf die Werte des Landes. "Die Franzosen lächeln, doch ganz entspannt lächeln sie nicht."

Paris, noch immer ist es die Stadt der Jugend, der Mode, der Künstler und Intellektuellen. Doch unverkennbar ist Paris heute auch die Stadt der Terrorangst, der Arbeitslosigkeit, der wachsenden Ungleichheit, der sozialen Spannungen, der Frustration bis in weite Teile der Mittelschicht. Und trotzdem: Noch ist etwas übrig von der legendären französischen Lässigkeit, Freizügigkeit, Leichtigkeit.

Die Fußball-Europameisterschaft jedenfalls kam gerade zur rechten Zeit. Die meisten Franzosen empfinden sie als Fest, das es zu feiern gilt. Wann passiert es denn sonst noch außer während eines Fußballmärchens, dass sich fremde Menschen spontan in die Arme fallen? Generaldirektoren Schulter an Schulter mit Arbeitern stehen? Menschen spontan auf den Straßen und in den U-Bahnen ins Reden kommen, gemeinsam lachen, feiern, abklatschen? Und wenn heute Nationalmannschaften spielen, spielen auch Nationen keine Rolle mehr: Die starken Teams bei der EM bestehen aus einer kongenial bunten Mischung, bestehen aus Menschen verschiedenster Herkunftsländer, Hautfarben, Religionen, Weltanschauungen. Diese Vielfalt, dieser Teamgeist schießt Tore, macht Freude.

Es gibt Momente, da ist es nicht nur ein Chanson: La vie en rose. (Thomas Sautner, 25.6.2016)