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Ingeborg Bachmann, vermutet Hans Höller, hätte auch heute – vor allem als Erzählerin – den alten Mut, die Unbekümmertheit, die Freiheit und den Glanz, der in ihren Werken leuchtet, bewahrt. So wie ihre Empörung und die "goldne gallizische Haut", die man ihr so oft abziehen wollte.

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Hans Höller, früher Professor am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg, ist gemeinsam mit Irene Fußl Gesamtherausgeber der neuen Salzburger Bachmann-Edition im Suhrkamp- und Piper-Verlag.

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Am heutigen Tag, 25. Juni 2016, wäre Ingeborg Bachmann 90 Jahre alt geworden. "Wie hätten wir uns die Schriftstellerin als 90-Jährige vorzustellen?", wird in diesen Tagen oft von Journalisten gefragt. Jede Leserin und jeder Leser wird das anders beantworten, weil die Antwort von der eigenen Bachmann-Lektüre abhängt.

Ich glaube, Bachmann würde, wenn sie heute wieder mit Gerda Haller sprechen würde wie damals, im Juni 1973 in Rom, in dem letzten, großen, über mehrere Abende hin fortgesetzten Gespräch, in diesem persönlichsten, politisch radikalsten Interview, das sie jemals gegeben hat und das wie ihr Testament wirkt – ich glaube, sie würde nichts zurücknehmen, wahrscheinlich nur noch schärfer formulieren, sofern das möglich ist, sich nur noch weiter von dem seither noch universaler gewordenen "Bimbam von Worten" (Wahrlich. / Für Anna Achmatova) entfernen, aber auch nichts zurücknehmen von ihrem utopischen Denken, das immer aufs Neue die Sprengkraft der Fantasie erweist. "Und ich glaube nicht an diesen Materialismus, an diesen Kapitalismus, an diese Ungeheuerlichkeit, die hier stattfindet, an diese Bereicherung der Leute, die kein Recht haben, sich an uns zu bereichern."

Gewaltbereite Welt

Und dann sagt sie in diesem Interview Sätze, welche die Spannung von illusionsloser Realitätseinsicht und utopischem Denken in der für Bachmann charakteristischen lebens- und schreibnotwendigen Dynamik zeigen, auch was die Ungeschütztheit und verzweifelte Gestik des "und trotzdem" angeht: "Ich glaube wirklich an etwas, und das nenne ich 'Ein Tag wird kommen'. Und eines Tages wird es kommen, ja, wahrscheinlich wird es nicht kommen, denn man hat es uns ja immer zerstört. Seit so vielen tausend Jahren hat man es immer zerstört. Es wird nicht kommen, und trotzdem glaube ich daran, denn wenn ich nicht daran glauben kann, kann ich auch nicht mehr schreiben" (Ingeborg Bachmann. Ein Tag wird kommen. Gespräche in Rom. Ein Porträt von Gerda Haller).

Sie würde als Neunzigjährige heute noch schreiben. Marie Luise Wandruszka, die in der neuen Salzburger Bachmann-Edition Das Buch Goldmann herausgibt, könnte, soweit ich das ihren Kommentaren zu diesem "Buch" entnehmen kann, die Frage auf ihre Weise so erklären: Böhmen liegt am Meer sei ihr letztes Gedicht, damit sei alles aus, es gebe danach kein Gedicht mehr, hat Bachmann zu Gerda Haller gesagt.

Österreichische "Comédie humaine"

Sie wäre also eine Erzählerin geworden. Sie, eine Balzac-Verehrerin, stünde heute, mehr als 150 Jahre nach Balzac, noch mitten in der in den 1960er-Jahren begonnenen Arbeit an ihrer anderen, heutigen "Comédie humaine", die vor allem in Wien spielt und in der Kärntner Provinz, ein riesiges Geflecht von erzählten Figuren, das sich seit dem Beginn der Arbeit am "'Todesarten'-Projekt" immer weiter ausgedehnt hat. Sie würde heute erst bei Band 17 angekommen sein, weit entfernt noch von den 91 Bänden, die Balzac abschließen konnte.

Es wäre bei ihr eine andre, eine österreichische Roman-Comédie geworden, mit mehr Aufmerksamkeit für die Alltagsformen der Sprache und des Sprechens (Wittgenstein) und für die soziale Vielstimmigkeit der Rede, analytisch wacher, freudianischer mit ihrem Blick für die "Geschichte im Ich", in welchem die Verbrechen ihre Resonanz finden, komödiantischer auch und belebt durch das "Komische", das bei ihr "mehr als das Tragische ... seine Noten" hat, "seine nationalen" (Bachmann in einer Anmerkung zu ihrem Libretto für Hans Werner Henzes Komische Oper Der junge Lord).

Aber ihre Romane wären auch, stärker als bei Balzac, getragen von einer geradezu organischen Sympathie für den gekränkten, krankgemachten Menschen und seine Verstörung im Wahnsinn einer gewaltbereiten Welt.

Ein anderer Neubeginn

Jeder der Bände hätte seine unverwechselbare Sprachwelt, einen vielfältig gebrochenen Ausdruck, der die dissonanten Zeichen der Schocks und Einbrüche traumatischer Erinnerungen festhält, verwandt mit der Musik der Moderne und vor allem der von Gustav Mahler. Auf dem Schreibtisch der Schriftstellerin würde in einem Rahmen das alte Telegramm stehen, das ihr Henze vor 45 Jahren nach dem Erscheinen ihres ersten todtraurigen Comédie-Bandes geschickt hat: "LEKTUERE MALINA BEENDET SEHR AUFGEWUEHLT VON REICHTUM GROESSE TRAURIGKEIT VERZWEIFLUNG DEINER ERSTEN SINFONIE WELCHE DIE ELFTE VON MAHLER IST".

Es wäre in ihrer neuen "Comédie humaine" nach 1945 der Kapitalismus keine abenteuerliche Welt der Kämpfe und Intrigen der Aristokraten und Bürger mehr, in ihren Romanen hätte sie sich eher den Opfern zugewandt in einer Prosasprache, der sie das Traumengedächtnis als Haltung des Eingedenkens im Innersten anverwandelt hat. Und es würde für die 90-Jährige noch heute gelten, was sie vor einem halben Jahrhundert über eine ihrer literarischen Gestalten geschrieben hat: "Sie stand mit stummen Göttern gut und hatte ein phänomenales Gedächtnis ganz aus Flimmerhaar für verlorene Zeit und eine verlorene Erde".

"Das ist der schönste Sommer meines Lebens"

Die Erzählerin hätte aber noch immer auch den alten Mut, die Unbekümmertheit, die Freiheit und den Glanz, die in ihren Büchern leuchten, die "goldne gallizische Haut", die man ihr so oft abziehen wollte – und ihre kärntnerisch-slowenische Empörung aus der Zeit der NS-Verbrechen gegen die österreichisch-slowenische Bevölkerung, als sie 1943 mit 17 Jahren die Erzählung Das Honditschkreuz schrieb.

Und dieser innere, und nicht nur innere Widerstand machte sie so frei und ungebunden, dass sie in den ersten Junitagen 1945 aufmerksam und wie gebannt der Erzählung eines Soldaten der alliierten Truppen zuhören konnte, der 1938 als Jude aus Wien nach Palästina geflüchtet war. Eine Szene dieser Begegnung, in Bachmanns Kriegstagebuch notiert, kann einem wie das Märchen von einem anderen Neubeginn in Österreich erscheinen.

Er, Jakob Chamicz, Kind polnischer Eltern, in einem Waisenheim in Wien aufgewachsen, war als Jack Hamesh mit den alliierten Truppen nach Hermagor in Kärnten gekommen. An einem Abend erzählt er ihr im Garten des Ferienhauses der Eltern seine Geschichte. Sie redeten auch über Bücher, die sie gelesen hat, und er staunte, dass ein "junges Mädel" die von den Nazis verbrannten Bücher der jüdischen Autoren des 20. Jahrhunderts kannte.

Als er ging, küsste er ihr zum Abschied die Hand, was davor noch nie jemand getan hat, und sie, die 18-Jährige, ist, "wie er fort war ... auf den Wallischbaum gestiegen": "es war schon dunkel, und ich hab geheult und mir gedacht, ich möchte mir nie mehr die Hand waschen" (Kriegstagebuch). Und in einem späteren Tagebucheintrag aus diesen Wochen der Befreiung steht: "Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde – das wird der schönste Frühling und Sommer bleiben."

Ungestüme Freiheit

Diese Erinnerung hallt wider als der Klang einer ungestümen Freiheit in ihrem Werk, weitergetragen von den Erinnerungen ihrer Romangestalten. Balzac hätte sie beneidet um diese lyrischen Ausbrüche, diese weit zurückhörenden Erinnerungsfetzen, diese Gedichte in der Romanprosa, in deren evokative, freche und ungehobelt schöne Sprache sogar der nüchterne Bruder in Das Buch Franza verfällt, wenn er die Schwester in ihrer einstigen Jugendgestalt beschwört in seiner Anrufung, die eine Litanei aus Kärnten ist, aus der österreichisch-slowenischen Dorfwelt, voll von magischen und antiken Einsprengseln: "Enigma, meine einzige Schwester, anima, meine Dorfelektra, meine Wilde von Tschinowitz und von den Blechhütten, meine Schwimmerin aus der Gail, meine anima. Meine Blöde vom Land, meine kleine Idiotin, meine gegrillte Seele, wenn ich eine habe, meine einzige und meine nicht vorhandene" (Das Buch Franza (Todesarten)).

Ingeborg Bachmann hätte nicht, was sie im Sommer 1966 einen Moment lang wünschte, in der Nähe Thomas Bernhards in Ohlsdorf leben können, dieser oberösterreichische Weimar-Traum wäre für beide ein antiklassischer Albtraum geworden. Aber ihre nach und nach, immer unter dem Druck des Nichtfertigwerdenkönnens und den sonstigen Unterbrechungen fertiggestellten Romane hätten es verhindert, dass Franz-Josef Murau sie in Auslöschung (1986) als die größte Lyrikerin rühmte und die Prosa der Dichterin Maria aus Kärnten, die in Rom lebte und mit der unverkennbar Ingeborg Bachmann gemeint war, mit der Bemerkung abtat, dass sie das Prosaschreiben immer gleich aufgegeben habe.

Sie würde noch immer mit Peter Handke befreundet sein, ihm zugetan sowohl in ihrer Ethik des Übersetzens und des Simultanen wie in ihrem nahen Verhältnis zum Slowenischen, in der Sprachbewusstheit wie in der Ortsbesessenheit ihres Erzählens; überhaupt im Erzählen des Irdischen – "Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ...".

Und sie würde heute noch denken, dass es richtig war, dass sie ihn, das junge Genie aus der Steiermark, wie sie unübersehbar mit Beziehung auf ihn schrieb, ihrem Erzähler Malina als seinen österreichischen Schüler in Literaturdingen an die Seite stellte.

Malina sollte als Erzähler durch alle Bände des Werks hindurchgehen. Auf der Frankfurter Buchmesse des Jahres 1966 wurde in Das Buch Goldmann diese persönliche Genealogie des Schreibens begründet, die sich den Marktgesetzen des Literaturbetriebs kritisch gegenüberstellt.

Einander erkennen

Sie würde ihm auch weiterhin in ihren Büchern kleine Schibboleths geschickt haben, die, wie alles, was sie schreibt, geheimnisvoll und vielsinnig sind. Einmal hat sie in einem Briefentwurf an ihn Mitte der 1960er-Jahre geschrieben, dass sie "nicht immer kalte Füße" habe. Sie hat an den Satz am Beginn ihres Erzählbands Simultan (1972) erinnert, wo er in der inneren Rede der Protagonistin, einer Simultandolmetscherin, vorkommt: "Boze moj! Hatte sie kalte Füße." Das Slowenische ist eines dieser Zeichen des Einander-Erkennens, und dass sie immer noch kalte Füße hatte.

Jetzt, nach dem 17. Comédie-Roman, schreibt sie an einem Libretto für Thomas Larcher, damit er ihr nach Böhmen liegt am Meer – Enigma für Bariton, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (2008/09) als Komponist nicht verlorengeht, für Adriana Hölszky hat sie einen Liederzyklus fertiggestellt und dafür zum ersten Mal nach 50 Jahren wieder Gedichte geschrieben. Sie weiß, dass diese Vertonungen wild sein werden wie das "Vampirabile", dem sie sich verwandt fühlt, genauso wie dem Satirisch-Menschenfresserischen in Jelineks Kunstwerken. Bei ihr und den Henze-Schülern und Schülerinnen weiß sich die alte Schriftstellerin auf ihren Wegen ins Verbotene und Gefährliche verstanden.

Hans Werner Henze hatte 1954 in einem Brief das ganze restaurative Kritikergerede zu ihrem ersten Lyrikband Die gestundete Zeit (1953) hinweggefegt und aus den Gedichten etwas Alarmierendes, Skandalöses und Erschreckendes herausgehört. Er schrieb es ihr, wie um Distanz herzustellen, auf Englisch: "You have in these new poems something alarming, scandalous, bewildering, startling." (Hans Höller, 25.6.2016)