In einer Hinsicht immerhin hatten die Demoskopen recht: Großbritannien ist ziemlich genau in der Mitte gespalten. In anderer Hinsicht aber hat die Branche ihrem verheerenden Abschneiden bei der letzten Unterhauswahl ein weiteres Waterloo hinzugefügt. Am Donnerstagabend war von einem Sieg der EU-Befürworter mit 52, ja sogar 54 Prozent die Rede. Freitagfrüh aber stand nach Auszählung von 60 Prozent der Stimmen fest: Der Brexit kommt. Das ist schlimm für das Land, ein existenzielles Problem für den Brüsseler Klub und eine Kalamität für die Weltwirtschaft.

Für diesen Rückschlag gibt es viele Ursachen. Natürlich sind die Briten schon immer ein wenig anders gewesen. Nicht zuletzt haben sie im Zweiten Weltkrieg zeitweilig als einziges Land der scheinbar unbesiegbaren Kriegsmaschinerie Hitler-Deutschlands widerstanden. Es fehlt ihnen der brutale Schock der Niederlage und Besetzung, den zunächst Frankreich und sämtliche anderen kriegführenden Nachbarn des Großdeutschen Reichs und dann die Deutschen und Österreicher selbst erleben mussten. Sie fühlten nie den tiefen emotionalen Willen, die Katastrophe des Krieges durch die europäische Einigung zu überwinden. Verspätet traten sie 1973 der Gemeinschaft aus wirtschaftlichen Gründen bei, verfassungspolitische Feinheiten machten keinen Unterschied.

Volksabstimmung in Eile

In den Jahren danach spielte die Insel zunächst eine wichtige Rolle, nicht zuletzt bei der Einführung des Binnenmarkts. Doch seit mindestens zwei Jahrzehnten wurden die Stimmen der EU-Phobiker immer lauter. Die Befürworter der gemeinsamen Sache, auch scheinbar übermächtige Politiker wie Tony Blair, trauten sich immer seltener, die Stimme zu erheben. David Cameron wurde als harter Euroskeptiker Chef seiner Partei und des Landes. Das Versprechen des Referendums war ein taktischer Rückzug vor den Nationalpopulisten der Ukip und in der eigenen Partei. Die Eile, mit der er die Volksabstimmung im Februar ansetzte, brachte ihm den Missmut der kleineren Regionen des Landes ein. Zudem hat der Premier eine deprimierend negative Kampagne gefochten. Von den Vorteilen des Klubs, von der Schönheit der wichtigen Idee war zu keinem Zeitpunkt die Rede.

Aus kontinentaleuropäischer Sicht sollte man am knappen Ergebnis nicht deuteln. Es wird jetzt darum gehen, den Auszug der Briten einigermaßen freundschaftlich über die Bühne zu bringen. Und die Brüsseler Einheitsfanatiker sollten sich davor hüten, nach dem Motto "Jetzt erst recht" zu handeln. Mag die Insel in wichtiger Hinsicht ein wenig anders sein als andere, mag die Debatte der vergangenen Monate hässliche, ja, fremdenfeindliche Züge gehabt haben – zum Vorschein kamen auch Sorgen, die weit verbreitet sind. Längst nicht nur in Großbritannien fühlen sich die Menschen in ihren Kommunen, Regionen und ihrem Nationalstaat aufgehoben. Diese Bindung haben sie zu Europa nicht. Wer zu Recht an den vielen wunderbaren Aspekten europäischer Kooperation festhalten will, sollte sich auch eingestehen: Ein Vorpreschen der Eliten ohne die demokratische Zustimmung der Völker schadet dem Vorhaben eher, als dass es ihm nutzt. (Sebastian Borger aus London, 24.6.2016)