Im Bild: Cameron und Merkel in Berlin. Merkel äußert sich zum Referendum nur zurückhaltend – wurde ihr doch die tragende Rolle bei den Griechenland-Verhandlungen übelgenommen.

Berlin hofft schweigend auf "Bremain"

Kanzlerin Merkel äußert sich zum Referendum zurückhaltend – Finanzminister Schäuble: "Würden weinen, wenn Großbritannien rausginge aus der EU"

Natürlich weiß jeder halbwegs politisch Interessierte in Deutschland, dass die deutsche Bundesregierung auf einen Verbleib Großbritanniens in der EU hofft. Bundeskanzlerin Angela Merkel wie auch andere Mitglieder der deutschen Regierung haben daraus nie ein Hehl gemacht. Allerdings sind sie, bis auf eine Ausnahme, dabei eher zurückhaltend.

"Ich habe vielfach gesagt, dass wir uns einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union wünschen", sagt Merkel, um aber gleich hinzuzufügen: "Es bleibt eine Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens." Dennoch hat Merkel schon darauf verwiesen, dass die Briten bei einem Austritt nicht anders als ein "Drittstaat" behandelt werden würden: "Wir würden mit jemandem, der von außen kommt – wir haben ja schon viele Verhandlungen auch mit Drittstaaten geführt –, nie die gleichen Kompromisse eingehen, die gleichen guten Ergebnisse erzielen können für Staaten, die eben nicht die Verantwortung und auch die Kosten des Binnenmarktes mittragen."

Strategische Zurückhaltung

Die Gründe für Merkels Zurückhaltung liegen auf der Hand. Sie will auf keinen Fall als "Domina Europas" oder "Zuchtmeisterin" in Erscheinung treten. Die Plakate, die sie auf dem Höhepunkt der Euro-Krise mit Hitler-Bart und SS-Uniform zeigten, sind in Berlin noch in schlechter Erinnerung. Man wollte mit klaren "Anti-Brexit-Äußerungen" den Austrittsbefürwortern nicht noch zusätzliche Munition liefern.

Deutlich weniger diplomatisch formuliert es allerdings der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). "In is in, out is out", meinte er in einem "Spiegel"-Interview und versuchte den Briten weniger verschwurbelt als Merkel klarzumachen, welche ökonomischen Nachteile sie durch einen Brexit hätten. Er schließt aus, dass die Briten nach einem Ausscheiden weiter die Vorzüge des europäischen Binnenmarkts genießen könnten wie zum Beispiel Norwegen oder die Schweiz. "Dazu müsste sich das Land an die Regeln eines Klubs halten, aus dem es gerade austreten will." Ein Brexit, so Schäuble, sei eine Entscheidung gegen den Binnenmarkt.

Angst vor wirtschaftlichen Verwerfungen

Deutschland fürchtet nicht nur die drohenden Turbulenzen auf den Finanzmärkten, sondern auch wirtschaftliche Nachteile. Großbritannien ist nach den USA und Frankreich der drittgrößte Handelspartner Deutschlands. Mehr als 2.500 deutsche Firmen sind dort tätig, noch mehr (rund 3.000) britische in Deutschland. Wären beide Länder nicht mehr in einem Binnenmarkt, würde das die Handelsbeziehungen erschweren. Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung rechnet damit, dass sich der Brexit mit einem Minus von einem halben Prozentpunkt auf das BIP auswirken könnte. In der deutschen Hauptstadt hat man auch schon ausgerechnet, was es Berlin kosten würde, die ausfallenden Zahlungen der Briten an die EU zu kompensieren: 2,5 Milliarden Euro.

Doch natürlich treibt Berlin auch die Sorge vor einem Zerfall Europas im Falle eines Brexit um. Schäuble schließt nicht aus, dass auch andere Länder austreten, und verweist auf die Niederlande, die traditionell enge Beziehungen zu Großbritannien haben. "Wir würden weinen in Deutschland, wenn Großbritannien rausginge aus der EU", sagt er, fügt aber andererseits hinzu: "Europa wird zur Not auch ohne Großbritannien funktionieren."

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Die City of London – der größte Finanzhandelsplatz der Welt.
Foto: AP/Halle

Die Franzosen liebäugeln mit dem Brexit

Das offizielle Frankreich wünscht sich einen Verbleib – aber einige Politiker und Ökonomen sähen durchaus Vorteile eines Brexit für Frankreich

Natürlich wünscht Frankreich, dass die "britischen Freunde" in der Familie bleiben; natürlich wäre alles andere ein "Unglück". So lautet in Paris der offizielle Diskurs von Präsident François Hollande bis Oppositionschef Nicolas Sarkozy. Besonders leidenschaftlich legen sich die Franzosen aber nicht ins Zeug. Ihre auffällige Zurückhaltung in der Brexit-Debatte wird zum Teil damit erklärt, dass jeder französische Aufruf an die englischen Wähler "im besten Fall eine begrenzte Wirkung hätte, im schlechtesten Fall sogar kontraproduktiv wäre", laut Harlem Désir, Staatssekretär für europäische Fragen.

Aber so richtig will man ihm das nicht abnehmen. Die Franzosen waren noch nie sehr anglophil. Schließlich nennen sie den englischen Erzfeind seit dem 18. Jahrhundert das "perfide Albion". Das geflügelte Wort äußerte sich auch 1963 im Veto von Charles de Gaulle gegen die Aufnahme Englands in den europäischen Binnenmarkt. Noch heute sehen viele Franzosen die Briten als trojanisches Pferd der angelsächsischen Finanzindustrie in der EU. Laut einer vergleichenden Studie der Universität Edinburgh sind 44 Prozent Franzosen für den Brexit – weit mehr als Schweden, Deutsche, Polen, Spanien oder Iren. Auf die Frage, ob der Brexit Angst mache, antworteten 56 Prozent der Deutschen mit Ja, aber nicht einmal ein Drittel der Franzosen (27 Prozent).

Briten als Brems- oder Störfaktor

Nimmt man alle Umfragen der letzten Wochen zum Nennwert, wünscht immerhin eine Mehrheit der Franzosen keinen Brexit. Der andauernd hohe Anteil der Befürworter rührt von einer unheiligen Allianz: Die leidenschaftlichsten Proeuropäer – wie etwa Harlem Désir – halten die Briten meist nur für einen Brems- oder Störfaktor der europäischen Integration. Die EU-Gegner sehnen dagegen den Brexit herbei, weil er unweigerlich die Frage nach dem französischen Verbleib in der EU aufwerfen würde. Die Rechtsextremistin Marine Le Pen verlangt diesbezüglich in allen EU-Ländern Volksabstimmungen. "Frankreich hätte vielleicht fünfmal so viele Gründe wie die Engländer, die Europäische Union zu verlassen", meinte sie unlängst in Wien.

Auch ökonomische Argumente für den Brexit sind in Paris auffällig verbreitet. Häufig hört man, der Finanzplatz Paris würde davon profitieren, wenn die Londoner City aus dem EU-Raum ausscheide. Claude Mosseri-Marlio, Ex-Wirtschaftsprofessor in Oxford und Harvard, sieht im Brexit aber nicht nur deshalb "eine Chance für Frankreich". Er verweist auf die Privatbank HSBC, die erklärt habe, sie könnte in diesem Fall tausend Angestellte von London nach Paris verlegen.

Auch multinationale Firmen könnten ihren Sitz an die Seine verlegen und dort stärker investieren, meint der ehemalige Industrielle. Außerdem bliebe Frankreich ohne Großbritannien die einzige Atommacht in der EU, und auch die französische Sprache würde aufgewertet, schätzt Mosseri-Marlio: "Der Brexit würde Frankreich erlauben, seine Ausstrahlung auf europäischer und internationaler Ebene zu vergrößern."

Nur leicht geringeres Wachstum

Der Internationale Währungsfonds schätzt die Wachstumseinbußen bei einem Brexit für Frankreich zwar nur auf 0,2 bis 0,4 Prozent. Ärmelkanal-Anrainer wie Belgien oder Holland wären härter getroffen als Frankreich, das nur zwei Prozent seiner Produkte ins Inselkönigreich exportiert. Vincent Juvyns von JPMorgan AM prophezeit für den Brexit-Fall sogar eine "positive Wirkung auf die ökonomische Integration der EU". Christopher Dembik von der Saxo Bank denkt, dass die französischen Banken nach einer zumindest vorübergehenden Schwächung der britischen Banken "ihre Marktanteile erhöhen" könnten.

Der bekannte Ökonom Marc Touati entgegnet, das sei pures Wunschdenken: "Welcher Unternehmer wäre verrückt genug, seinen Firmensitz in einer steuerlichen und reglementarischen Hölle (wie Frankreich, Red.) anzusiedeln, wenn er ganz in der Nähe über Finanzparadiese wie Luxemburg oder Irland verfügt?" Paris solle auch nicht davon träumen, den Finanzplatz London zu "beerben", meint Touati: "Die City hat sich dank der Nichtbeteiligung am Euro verstärkt, und auch einen Brexit würde sie gut überstehen."

USA und Großbritannien: "Special Relationship" auf dem Prüfstand

Die USA warnen Großbritannien davor, auf die USA zu setzen, um sein Gewicht bei einem Brexit zu wahren

Von der "Special Relationship" zum Vereinigten Königreich ist zwar bisweilen noch immer die Rede im Weißen Haus, aber wenn, dann wissen alle Beteiligten, dass es sich eher um rhetorische Pflichtübungen handelt. Um verbale Beruhigungspillen für britische Staatsgäste, die penibel darauf achten, dass die Gastgeber den Begriff nicht vergessen.

Wie man in Wahrheit über die Sonderbeziehung denkt, war neulich in einer Studie des Thinktanks Atlantic Council zu lesen. Demnach sei die "Special Relationship" nur so etwas wie ein nostalgiebeladener Mythos. Und dass ein Großbritannien, das mit der EU bricht, auf der Prioritätenliste Washingtons weiter abrutschen dürfte, hat Barack Obama bereits im April in London ganz ohne Wortgirlanden zu verstehen gegeben. Das Land müsste sich am Ende der Warteschlange einreihen, wenn es anstelle des angepeilten TTIP-Pakts ein eigenes Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten aushandeln wolle, sagte der Präsident.

Es war weniger eine Drohung als eine nüchterne Beschreibung der Realität. Wer weiß, wie mühsam es ist, solche Verträge durch einen US-Kongress zu bringen, in dem es an protektionistischen Stimmen nicht fehlt, kann ungefähr ermessen, welchen Hürdenlauf ein "Kleinbritannien" zu absolvieren hätte – zumal die großen Handelsblöcke in aller Regel Vorfahrt haben.

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Zwei ehemalige US-Außenministerinnen warnen vor dem Brexit.
Foto: Reuters/Latif

Offener Brief an die Briten

Inzwischen haben 13 amerikanische Außenpolitiker von Rang in einem offenen Brief vor den Folgen eines Brexit gewarnt. Die Rolle des Königreichs in der Welt würde leiden, zugleich würde Europa empfindlich geschwächt, schrieben sie. Großbritannien sollte besser nicht auf die "Special Relationship" bauen, um sein Gewicht zu wahren. Die nämlich würde keineswegs ausgleichen, was es an Einfluss einbüße. Zu den Unterzeichnern zählten die Außenminister Ronald Reagans und Bill Clintons, George Shultz und Madeleine Albright, ein Republikaner und eine Demokratin.

Unter den maßgeblichen Strategen der USA herrsche in einem Punkt Einigkeit, doziert Fred Kempe, der Chef des Atlantic Council: Die "Special Relationship" wäre weniger speziell, wenn die Briten in Europa weniger zu sagen hätten. Natürlich blieben sie auch außerhalb der EU ein wichtiger Partner, beim Militär, im Handel, als Kulturmacht. "Doch wenn es darum geht, gemeinsam globale Probleme zu lösen, ist es viel besser, wenn sie drin sind." Man schätze sie als pragmatische Stimme im europäischen Club.

Eingeschränkter Aktionsradius

Es ist nicht nur die Aussicht, dass jener Verbündete, auf den sich die Amerikaner fast blind verlassen können, seinen Aktionsradius empfindlich einschränkt. Genauso ausgeprägt ist die Angst vor einem Dominoeffekt, der womöglich bald andere EU-Mitglieder über ähnliche Referenden nachdenken lässt.

Donald Trump ist für einen britischen Austritt aus der EU. Seine Argumentationsführung im US-Wahlkampf und die der britischen EU-Gegner ähneln sich streckenweise.

Nur spiegelt die Brexit-Debatte eben auch wider, wo im inneramerikanischen Diskurs die Gräben verlaufen. Eine Gruppe texanischer Separatisten, das "Texas Nationalist Movement", sieht in einem Großbritannien, das sich aus Brüssel verabschiedet, ein Vorbild, dem die Texaner nacheifern sollten, indem sie mit Washington brechen und die Unabhängigkeit ausrufen.

Donald Trump hat wissen lassen, dass er einen Brexit begrüßen würde, zumal dessen Befürworter ähnlich wie seine eigenen Anhänger die Angst vor unkontrollierter Einwanderung umtreibe. "Ich denke, die Migration ist eine schreckliche Sache für Europa, und vieles davon ist auf Druck der EU geschehen. Ich persönlich glaube, dass die Briten ohne die EU besser dran wären." Hillary Clinton hat vehement widersprochen, nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen. Ein Ja für den Brexit, fürchtet sie, würde den Tycoon mit seinen nationalistischen Parolen im Aufwind segeln lassen. (23.6.2016)