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Für die Buchmacher steht der Sieg des Remain-Lagers schon fest. Allerdings: Auch sie sind nicht unfehlbar. Ladbrokes etwa verlor mehr als eine Million Pfund bei den Wahlen 2015, da auch das Unternehmen nicht an einen solch klaren Sieg der Konservativen glaubte.

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London – Geht es nach den Wettanbietern, ist der Ausgang des Referendums über einen EU-Austritt Großbritanniens längst entschieden. Anders als die Wahlforscher haben die Buchmacher einen klaren Favoriten: Die Brexit-Gegner werden gewinnen.

Die Wettquoten von Betfair signalisieren eine Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent, dass die Briten am Donnerstag für einen Verbleib stimmen werden. Den Meinungsumfragen zufolge zeichnet sich hingegen ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab, dessen Ausgang bis zuletzt offen bleiben soll. Auch die Finanzwelt ist dementsprechend hypernervös.

Das Fingerfood ist schon bestellt, die Hotelzimmer in der Nähe der Büros sind gebucht: Die weltgrößten Banken bereiten sich auf eine aufreibende Nachtschicht in den Büros und Handelsräumen nach der Abstimmung vor. Die Turbulenzen an den Devisen- und Anleihemärkten, aber auch im Aktienhandel könnten laut Bankern im Fall eines Brexit ähnlich drastisch werden wie am Schwarzen Mittwoch im September 1992, an dem Großbritannien den Europäischen Wechselkursmechanismus verließ. Nick Parsons, Co-Chefdevisenstratege bei der National Australia Bank, war damals schon dabei: "Wenn der Brexit kommt, wird das mindestens die Größenordnung des Schwarzen Mittwochs haben."

Jeder will mitmischen

London ist nicht nur in diesen Tagen das Zentrum, um das die Finanzwelt kreist. Die britische Hauptstadt steht für 41 Prozent des weltweiten Devisenhandels, weit vor den USA, und das Pfund Sterling ist die am viertmeisten gehandelte Währung der Welt. "Alle Händler werden da sein. Sie mögen es nicht, wenn sie große Momente verpassen. Dann wollen sie an ihrem Desk sein", sagt ein hochrangiger Banker aus dem Finanzviertel um Canary Wharf. "Jeder will mitmischen. Die Frage ist nur, ob und wann man ein bisschen Schlaf bekommt", sagt ein Devisenhändler.

Doch nicht nur Devisen- und Bond-Trader dürften ihre Büros in der Nacht auf Freitag nur für ein kurzes Schläfchen verlassen. Auch Führungskräfte bei Citi, der Deutschen Bank, HSBC und Goldman Sachs sollen sich zumindest telefonisch in Rufbereitschaft halten, heißt es in Finanzkreisen. Nicht nur die Unsicherheit, wie die Briten über den Brexit entscheiden, macht es den Bankern so schwer, sich am Markt auf die richtige Seite zu schlagen. "Wir werden nicht wissen, was es bedeutet. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie das ausgeht", sagte JPMorgan-Chef Jamie Dimon bei einem Besuch in London vor Mitarbeitern. Dimon sähe Großbritannien am liebsten weiter in der EU und warnt vor Stellenstreichungen in London, wenn die Briten sich dagegen entscheiden.

Kopf-an-Kopf-Rennen

Die ersten Abstimmungsergebnisse werden gegen 23 Uhr (MESZ) erwartet, das Endergebnis dürfte wegen des Kopf-an-Kopf-Rennens zwischen Befürwortern und Gegnern aber erst Freitagfrüh vorliegen, kurz bevor in Europa die Märkte öffnen. Ein normaler Handelstag dürfte es jedenfalls nicht werden. "Wir hatten US-Wahlen, wir hatten Parlamentswahlen in Großbritannien, wir hatten das Referendum in Schottland, den Zusammenbruch von Lehman und QE (Quantitative Easing, die ultralockere Geldpolitik der EZB, Anm.), aber das ist bei weitem das Ereignis mit dem größten Risiko für Großbritannien", sagt Chris Huddleston, Leiter des Geldmarktgeschäfts bei Investec.

Vor allem das britische Pfund steht im Fokus. Schon Umfragen reichen, um seit Wochen heftige Kursschwankungen auszulösen. Das dürfte aber nichts sein im Vergleich zu dem, was der Währung nach diesem Donnerstag bevorsteht. Banken erwarten, dass es bei einem Ja zur EU von derzeit 1,41 bis auf 1,50 Dollar nach oben schnellt. Bei einem Brexit könnte das Pfund dagegen bis auf 1,30 Dollar oder noch tiefer fallen. Die größten Pessimisten sehen es sogar bei 1,20 Dollar – und in der Parität zum Euro.

Das könnte nicht nur die Computersysteme an ihre Grenzen bringen, auf denen gehandelt wird. Auch britische Notenbanker stehen bereit, notfalls noch in der Nacht einzugreifen. Die Bank of England (BoE) werde sich nicht gegen Kursanpassungen stemmen – doch sie werde sich darum kümmern, dass die Märkte funktionierten, sagte BoE-Chef Mark Carney.

Marktteilnehmer haben die BoE aufgefordert, sich notfalls an die US-Notenbank Fed zu wenden, wenn es allzu turbulent werde. Die britische Notenbank könnte mit Dollar-Krediten der Fed Pfund kaufen und die Währung damit stützen – das hatten die beiden 2008 auf dem Höhepunkt der Finanzkrise erstmals gemacht. Denn Händler und Analysten befürchten eine Abwärtsspirale der britischen Währung: Wenn angesichts einer Flut von Verkaufsorders die Käufer fehlten, müssten Banken das Pfund zu Kursen verkaufen, die weit unter den üblichen Limits lägen.

Schnell verkaufen

Die Institute sehen sich gewappnet. Ein hochrangiger Banker berichtet, sein Haus habe große Pfundreserven aufgebaut, um im Notfall Kunden unter die Arme zu greifen, die angesichts des Auf und Ab kurzfristig zusätzliche Sicherheitsleistungen für den Handel aufbringen müssen. Ein Vermögensverwalter berichtet, sein Unternehmen habe in einem Probelauf getestet, wie es mit einem 30-prozentigen Verfall des Pfunds zurechtkommen würde. Man habe die Kassenbestände aufgestockt und Händler über Nacht ins Büro beordert, um bei Bedarf schnell andere Anlagen zu verkaufen, wenn man mehr Geld brauche.

"Man freut sich auf Tage wie diese", sagt ein Anleihenhändler einer Londoner Großbank. "Da gibt es viel Geld zu verdienen – und zu verlieren. Man muss nur darauf hoffen, dass man auf der richtigen Seite steht und nicht derjenige ist, den man zur Tür hinausträgt." (Reuters, APA, red, 23.6.2016)