Ungeliebter Quereinsteiger: Chris Dercon.

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"Was qualifiziert den netten Leiter der Londoner Tate Modern für die Leitung eines Theaters? Gar nichts qualifiziert den!" So polterte Claus Peymann, Chef des Berliner Ensembles, als letztes Frühjahr ruchbar wurde, dass ab Sommer 2017 Chris Dercon die Berliner Volksbühne leiten soll. Kulturstaatssekretär Tim Renner hatte den Vertrag Frank Castorfs nicht verlängert und stattdessen einen aus der Welt der bildenden Kunst designiert.

Ob die unerhörte Umtopfung das "Waterloo des europäischen Theaters" wird, wie Peymann sagte, wird sich erst weisen. Beträchtliche Abstoßungsreaktionen gibt es jedenfalls auch im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz. Man hängte ein Schild mit der Aufschrift "Verkauft" an die Fassade. Castorf selbst stellte bei einer seiner Inszenierungen ein Versace-Logo auf die Bühne, um die Übernahme des Theaters durch den Erzfeind Kapitalismus anzuprangern.

Doch aller Protest auf künstlerischer Basis half nichts. Ende April stellte sich Dercon auf einer Vollversammlung seiner Belegschaft in spe vor. Seine Internationalität führte der wohlvernetzte Belgier ins Feld, sprach aber auch von der "Verflüssigung von Alltag und Kultur". Zu viel Kuratorenblabla, befand mancher Zuhörer – und so erging am Montag ein Brief an die Berliner Kulturverwaltung, unterzeichnet von 180 Volksbühne-Mitarbeitern. Darin wird einmal mehr Ängsten vor Stellenabbau und Zerstörung der gewachsenen Revolutionskultur Ausdruck verliehen.

Bei seinem Leisten bleibend, gelang dem 1958 geborenen Dercon, der in Amsterdam Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft und Filmtheorie studierte, indes eine bemerkenswerte Karriere. Er war Programmdirektor des New Yorker MoMA PS1 und kuratierte eine Ausstellung im Centre Georges Pompidou. Als er von 2003 bis 2011 Leiter im Münchner Haus der Kunst war, veranlasste er den Rückbau entnazifizierender architektonischer Eingriffe, auf dass die originalen Räume von Künstlern kritisch gedeutet werden konnten. Mit dabei war einst der der Volksbühne nahe Christoph Schlingensief (1960-2010).

Und ebendort befürchtet man doch, Dercon werde weniger auf Inhalte denn auf Besucherzahlen achten. Dass er sich mit Letzteren auskennt, kann ihm indes keiner absprechen. Als Direktor der Londoner Tate Modern, der er von 2011 bis 2016 war, gelang ihm mit 5,7 Millionen Besuchern im Jahr 2014 ein Jahreszuwachs von 18 Prozent. (Roman Gerold, 22.6.2016)