Europa ohne die Engländer? Das geht gar nicht. Während alles gespannt auf den Ausgang des EUReferendums wartet, ist es lohnend, sich darüber klar zu werden, wie sehr unsere Vorstellungen von Großbritannien tief in unsere Ideenwelt und auch in unsere Alltagssprache Eingang gefunden haben.

Gute Manieren nennen wir die feine englische Art. Wer sich richtig zu benehmen weiß, ist ein Gentleman. Ein vornehmer Herr ist ein Sir. Fair und foul sind auch außerhalb des Fußballplatzes Begriffe, die jeder kennt. Unser Bild vom Engländer stammt aus dem 19. Jahrhundert, als die Söhne aus reichem Haus nach den Schuljahren zur Grand Tour durch Kontinentaleuropa aufbrachen und bei den Einheimischen den Eindruck hinterließen, jeder Engländer sei ein Lord, kühl, elegant, ein wenig zurückhaltend und wohlhabend. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die britische Besatzungsarmee nach Österreich kam, wunderten sich viele, dass die gewöhnlichen Soldaten so gar nicht ihren Vorstellungen vom "typischen Engländer" entsprachen.

Aber nach wie vor sind die gängigen Shakespeare-Zitate – "Es ist etwas faul im Staate Dänemark", "Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage" – ebenso Teil unseres Bildungskanons wie die allgegenwärtigen geflügelten Worte aus den Werken von Goethe und Schiller. Für die Herrenmode – nicht die Damenmode – ist für die ältere Generation immer noch das englische Vorbild tonangebend. Man trägt tagsüber einen Blazer und am Abend einen Smoking (der in England freilich "dinner jacket" heißt). Selbst bei den Nazis, erklärten Feinden der englischen "Krämernation", schwang ein gewisser Respekt und Minderwertigkeitskomplex mit. "Unsere Fahne wehet auf dem Maste, sie verkündet unsres Reiches Macht und wir wollen es nicht länger leiden, dass der Englischmann darüber lacht", heißt es im damals populären Englandlied.

Und wie sieht der durchschnittliche Englischmann den Kontinent? Mit einer Mischung aus Arroganz und heimlichem Neid. Frogs (Franzosen), Wops (Italiener) und Huns (Deutsche) sind unseriöse Leute, die seltsame Dinge essen und die man besser auf einer gewissen Distanz hält. In Sachen Frauen ist der "latin lover" freilich unbestritten seinem schüchternen, dafür soliden, englischen Geschlechtsgenossen überlegen. Das Bild von den Deutschen als "Hunnen", blutrünstigen Barbaren, stammt aus dem Ersten Weltkrieg und wurde im Zweiten Weltkrieg befestigt. Erst zuletzt wurde es vom Prototyp des humorlosen, aber tüchtigen Technokraten verdrängt, der im Fußball immer gewinnt und die besten Autos macht.

Klischees? Gewiss. Aber im Unterbewusstsein der Völker halten sich eingeschliffene Typisierungen und Vorurteile länger, als aufgeklärte Bürger glauben. In der britischen Diskussion geht es vordergründig um politische und wirtschaftliche Argumente. Aber die Frage, ob man sich als stolzer Brite von "frogs" und "huns" etwas vorschreiben lassen sollte, schwingt als Hintergrundmelodie doch mit. Das alte Witzwort "Nebel über dem Ärmelkanal – Kontinent isoliert" ist noch nicht ganz vergessen.

Hoffentlich gewinnen die Befürworter des Bleibens. Die Briten gehören zu uns. Sie würden uns fehlen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 22.6.2016)