Noch selten war bei einer so bedeutsamen Abstimmung die Qualität der Argumente so ungleich verteilt wie beim britischen EU-Referendum am heutigen Donnerstag. Ein Ja zum Brexit würde die Wirtschaft des Landes beschädigen, sein außenpolitisches Gewicht mindern, den Kampf gegen Terrorismus und andere Gefahren erschweren und möglicherweise die Nation zerreißen, weil die Schotten den Austritt aus der Union nicht tatenlos hinnehmen würden. Die Brexit-Befürworter haben weder einen glaubwürdigen Plan für den Tag danach noch eine realistische Vision für die Zukunft. Ihre Kampagne arbeitet mit populistischen Slogans und appelliert bloß an dumpfe Gefühle.

Die meisten Beobachter erwarten, dass die sonst so coolen Briten wie meist in ihrer Geschichte doch mit dem Kopf und nicht mit dem Bauch entscheiden. Aber dass ein Referendum, das eigentlich nur dazu gedacht war, parteiinterne Rebellen ruhigzustellen, eine Nation so nahe an einen Abgrund führen kann, zeigt, wie groß das Unbehagen an Globalisierung und gesellschaftlicher Diversität geworden ist und wie stark die Kräfte, die ihr Heil in der Abschottung suchen – nicht nur in Großbritannien.

Angst vor Einwanderung

Die breite Anti-EU-Stimmung auf der Insel wird vor allem von der Angst vor Einwanderung geschürt, obwohl die Briten von der jüngsten Flüchtlingswelle kaum betroffen waren. Dazu kommt das wachsende Misstrauen gegenüber allen Eliten, was auch die vielen Warnungen vor den Brexit-Folgen neutralisiert. Der Durchschnittsbürger glaubt den Experten einfach nicht.

Die EU wird in den britischen Boulevardmedien seit Jahren als reiner Versagerverein dargestellt, wobei für ihre Führungsschwäche ja vor allem Mitgliedsstaaten wie Großbritannien verantwortlich sind, die ihr zu wenig Kompetenzen einräumen. Es ist das grundlegende Dilemma der EU, dass Regierungen und Bürger auf neue Herausforderungen wie Euro-, Wirtschafts- und Flüchtlingskrise allzu oft mit einem Rückzug hinter nationale Mauern reagieren und damit vernünftige europäische Lösungen erst recht verhindern.

Auftrieb für EU-Gegner

Diese Haltung ist auch auf dem Kontinent, auch in Österreich zu spüren, wenn auch weniger ausgeprägt als bei den Briten. Dort wird das Anti-EU-Lager nicht nur von Rechtspopulisten angeführt, sondern auch von Radikal-Thatcheristen, die fast jede Regulierung ablehnen. Ein Sieg des Brexit-Lagers aber würde die Europaskepsis überall anheizen und die Hoffnung mancher EU-Politiker, die Integration ohne die Bremser aus London rascher voranzutreiben, zunichtemachen.

Aber auch ein Sieg des "Remain"-Lagers gäbe der Union nur eine Atempause. In einer Zeit, in der eine rein nationale Politik immer weniger bewirken kann, wächst die Sehnsucht verunsicherter Bürger nach Abschottung und Kleingeistigkeit. Diesen Reflex nutzt Marine Le Pen genauso wie Heinz-Christian Strache und in den USA Donald Trump. Die EU-Führung mit ihren kopflastigen Initiativen, die dann in mühsamen Verhandlungen verwässert werden, kommt gegen dieses Bauchgefühl nur schwer an.

Vorteile der EU erklären

Was tun? Dank des Referendums wurden den Briten erstmals die Vorteile der EU verkauft. Auch ein Sieg für David Cameron und Co. darf nicht das Ende dieser Kampagne bedeuten. Europaweit müssen Politiker "We're in" ausrufen und erklären, warum wir die Union brauchen. Denn auch die EU-Gegner werden nicht stillhalten. (Eric Frey, 22.6.2016)