Rund um das Brexit-Referendum steigt die Sorge einer Renationalisierung der EU, denn nicht nur viele Briten sind skeptisch ob ihrer Mitgliedschaft. Auch in anderen Ländern befinden sich europakritische Parteien auf dem Vormarsch. Die Wahrscheinlichkeit einer raschen Renationalisierung ist zwar gering, aber ausgeschlossen ist sie nicht: Mit Marine Le Pen als französischer Präsidentin, einer Druck ausübenden AfD in Deutschland, den nationalkonservativ regierten Staaten Ungarn und Polen sowie diversen Rechtspopulisten in Regierungen weiterer Länder könnte bis 2020 eine nationalistische Schubumkehr Europas neue Realität werden.

Mit der Vetokeule

Dabei sind drei Wege denkbar: eine Vertragsreform, Austritte von einzelnen oder mehreren Mitgliedstaaten oder eine Politik des leeren Stuhls, also die faktische Ignoranz aller europäischen Verpflichtungen. Die Rechtspopulisten, die sich neuerdings die von Charles de Gaulle erfundene Floskel eines Europas der Vaterländer zu eigen machen, bleiben sehr vage, wenn es um die Konkretisierung ihres Lieblingsszenarios geht. Eines scheint aber festzustehen: Die nationalstaatliche Souveränität mit Vetomöglichkeit soll wieder in allen Politikbereichen Standard werden. Das allerdings käme einer Auflösung der derzeitigen EU gleich. Das renationalisierte Europa wäre somit nur intergouvernemental denkbar. Jede Entscheidung könnte von einzelnen Staaten durch Veto blockiert werden.

Für viele birgt das schnelle Wort von der Renationalisierung eine diffuse Gefahr. Und tatsächlich: Nimmt man die Ansagen ernst und denkt man sie konsequent weiter, so ergibt sich für europafreundliche Akteure das Bild eines nationalen Himmelfahrtskommandos. Für manch andere hingegen klingen die Konsequenzen verheißungsvoll.

Eine umfassende Renationalisierung bedeutet jedenfalls das Ende der Unionsbürgerschaft und somit unter anderem das Aus für das Recht auf Niederlassung, Aufenthalt, wirtschaftliche Betätigung, Gleichbehandlung oder Nichtdiskriminierung im EU-Ausland. Die EU-Kommission und das Europäische Parlament wären in der derzeitigen Form abgeschafft, ihre Kompetenzen nichtig. Bestenfalls gäbe es eine Parlamentarische Versammlung, die aus Abgeordneten der nationalen Parlamente bestünde.

Eine Rückkehr zum Nationalstaat würde aber nicht nur die europäischen Institutionen infrage stellen, sondern auch die nationalstaatlichen Grenzen des derzeitigen Europa. Unabhängigkeitsbestrebungen und verstärkte Grenz- und Souveränitätsdebatten wären in Belgien und Spanien zu erwarten, aber auch zwischen den Teilen des Vereinigten Königreichs. Bei einer Renationalisierung und einer Regierungsbeteiligung von Rechtspopulisten in Österreich wäre zudem das Verhältnis zu Italien in Bezug auf Südtirol gefährdet.

Paradoxerweise verspricht also eine Renationalisierung der Europäischen Union nicht unbedingt eine Stärkung der Nationalstaaten, sondern eher deren Infragestellung. Zugespitzt formuliert: Wer den europäischen Nationalstaat in seinen heutigen Grenzen erhalten will, muss gegen eine Renationalisierung der EU eintreten.

Schwere Verluste

Schwerwiegend wären zweifellos die wirtschaftlichen Folgen einer Auflösung der EU. Zwar könnten manche Branchen von einer Abschottung und geringerer Konkurrenz profitieren, allerdings wohl in nur geringem Ausmaß. In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wird hingegen der Wachstumsverlust durch Wartezeiten an den Grenzen für die gesamte EU bis 2025 auf bis zu 470 Milliarden Euro geschätzt, die Einbußen im BIP auf bis zu 1,4 Billionen. Erschwerte Reisebedingungen würden den Tourismus belasten. Europa wäre als globaler Spieler gegen China oder die USA chancenlos und könnte die eigenen, derzeit geltenden Standards in einer weiterhin globalisierten Weltwirtschaft kaum halten.

Ein völliger Zerfall des Euroraums hätte laut dem Wiener Institut für Höhere Studien gar eine Verdoppelung der Arbeitslosenquote und kostspielige Bankenrettungen zur Folge. Die einzelnen Staaten stünden im Falle einer Renationalisierung überdies in einem noch härteren Steuerwettbewerb, in dem jene mit gut ausgebauten Sozialsystemen und Arbeitnehmer-Rechten wie Österreich gegenüber anderen benachteiligt wären.

Geringe Investitionen

Eine Renationalisierung der EU würde bei restriktiver Zuwanderungspolitik auch negative demografische Folgen und damit Schwierigkeiten in der Finanzierung der jeweiligen Sozialsysteme nach sich ziehen, insbesondere solcher, die auf Besteuerung von Erwerbsarbeit gründen. Innovations- und Investitionsfreudigkeit sind in alternden und abgeschotteten Gesellschaften generell eher gering.

Hohes Risiko

Die meist diffusen Forderungen nach einer Renationalisierung sind also in verschiedenen Bereichen mit einem hohen Risiko verbunden. Dennoch macht es wenig Sinn, sie als illegitim abzutun und aus dem politischen Diskurs auszuschließen. Das wäre nicht nur demokratiepolitisch bedenklich, sondern auch kontraproduktiv. Vielmehr sollten die wahrscheinlichen Folgen einer konsequent zu Ende gedachten Renationalisierung dargelegt und deren Protagonisten damit auch konfrontiert werden. (Markus Pausch, 22.6.2016)