Nigel Farage, Vorsitzender der UK Independence Party, kämpft für einen Austritt Großbritanniens aus der EU. Kommt der Brexit, wird das ein Testlauf, was die Konzepte der "Wir sind allein besser dran"-Verfechter wirklich taugen.

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George Osborne hat eine Revolte ausgelöst. Für den Fall eines Brexits bereite er ein Sparpaket vor, warnte der britische Finanzminister seine Landsleute vergangene Woche. Ein EU-Austritt werde zu einer Rezession führen und die Steuereinnahmen einbrechen lassen, so Osborne. Um die Lücke zu schließen, müsse er Pensionen kürzen, Alkohol und Tabak höher besteuern.

65 Abgeordnete aus seiner eigenen Partei schrieben ihm daraufhin einen wütenden Protestbrief und sprachen von Panikmache. "Osborne soll tief Luft holen, sich beruhigen und nicht eine Krise herbeireden, wo keine ist", empfahl ihm einer der Abgeordneten.

Schlagabtausch

Die Episode ist exemplarisch für den Schlagabtausch, den sich Gegner und Befürworter des Brexit liefern. Umkämpft ist vor allem die Frage, ob Großbritannien nach einem EU-Austritt in eine wirtschaftliche Misere stürzen würde oder allein klarkommt.

Die meisten britischen Ökonomen und internationale Organisationen wie der Währungsfonds warnen vor einem Brexit. Aber exakte Zahlen darüber, was geschieht, wenn britische Unternehmen und Londoner Banken den Zugang zum europäischen Freimarkt verlieren, hat niemand.

Brexit als Glücksfall

Wie denn auch? Seit 1957 mit dem Vertrag von Rom der Grundstein für die EU gelegt worden war, rückte Europa wirtschaftlich enger zusammen. Zölle fielen, Hemmnisse für den Kapitalverkehr wurden abgebaut. Global ging die Tendenz in die gleiche Richtung. Erfahrungen dazu, was geschieht, wenn ein großes Land (Grönland hat 1985 die EG verlassen) mit einer Rückabwicklung der Globalisierung beginnt, gibt es nicht.

Der Brexit wäre nicht nur ein Testfall dafür, was passiert, wenn Anhänger einer nationalen Abschottungspolitik einmal wirklich das Ruder übernehmen. Auch Ökonomen sprechen von einem Experiment: "Für Wissenschafter wäre der Brexit ein Glücksfall", sagt Gabriel Felbermayr, Spezialist für Globalisierungsfragen am Münchner Ifo-Institut. "Forscher könnten Handelsintegration im Rückschritt beobachten."

Der Effekt offener Grenzen

Lange galt es innerhalb der Zunft als unumstößlich, dass Freihandel und der Abbau von Grenzen gut für den Wohlstand von Nationen sind. Globalisierung bedeutet Arbeitsteilung und ist in einer Welt, in der nicht alle alles herstellen können, sinnvoll. Doch zuletzt mehrten sich unter Wirtschaftswissenschaftern Stimmen, die die Vorteile des freien Waren- und Kapitalverkehrs vorsichtiger beurteilen.

Das betrifft die EU selbst. 1988 publizierte der italienische Ökonom Paolo Cecchini einen vielbeachteten Bericht, wonach der europäische Binnenmarkt einen Zuwachs der Wirtschaftsleistung von 4,5 bis 6,5 Prozent bringen würde. Ökonomen der Deutschen Bank haben sich Studien dazu aus jüngerer Zeit angesehen. Das tatsächlich generierte Wachstum lag demnach eher bei zwei bis drei Prozent, so der Konsens heute.

Unklare Folgen

Diskutiert wird heute auch über den wirtschaftlichen Effekt offener Grenzen. Nachdem Deutschland und Österreich mit Grenzkontrollen wegen der Flüchtlingskrise begonnen hatten, tauchten Studien auf, in denen vor einem Kollaps des Schengenraums gewarnt wurde. Das Institut France Stratégie rechnete etwa mit Kosten über 100 Milliarden Euro für die Wirtschaftsleistung Europas im Jahr.

Ökonom Felbermayr hält solche Zahlen für übertrieben. Er hat mit Kollegen in einer Studie versucht, die wirtschaftlichen Vorteile von Schengen zu errechnen. Dann traf man vorsichtigere Annahmen bezüglich dessen, was geschieht, wenn die Grenzbalken runtergehen, als die Kollegen aus Frankreich. Statt einer Stunde Grenzwartezeit hat man beim Ifo mit 20 Minuten gerechnet. So lange stehen Lkws im Schnitt an der Grenze zwischen den USA und Kanada. Siehe da: Die Kosten für einen Schengen-Kollaps reduzierten sich von 100 auf zwölf Milliarden Euro. Die Versorgung der Flüchtlinge käme deutlich teurer, so das Ifo.

Kosten verschwiegen

Felbermayr will keinen Brexit. Er ist alles andere als ein Gegner der europäischen Integration und der Globalisierung, weil er wie die meisten seiner Kollegen die Vorteile überwiegen sieht. Aber er sagt auch Sätze wie: "Die Auswirkungen globaler Märkte wurden lange einseitig positiv dargestellt. Die Kosten wurden verschwiegen."

Dazu gehört laut Felbermayr, dass Globalisierung Ungleichheit verstärkt. Wer fit für den Wettbewerb ist, profitiert. Jene in schwacher Position verlieren. Dazu gibt es neue Forschungsarbeiten.

Verlorene Jobs

Im Jänner hat der Ökonom David Autor vom Massachusetts Institute of Technology ein Papier veröffentlicht, in dem er zeigt, wie US-Regionen unter der Öffnung gegenüber China litten. Die Theorie besagt, dass, wenn Jobs in einem Industriezweig wegen billiger Konkurrenz aus dem Ausland vernichtet werden, neue Arbeitsplätze anderswo entstehen. Fabrikarbeiter können in einen Bürojob wechseln.

Der Autor zeigt, dass dies nicht passiert ist. 2,4 Millionen Jobs sind wegen der Importe aus China ab den 1990ern verlorengegangen. Seine Schlussfolgerung lautet nicht, dass Freihandel schlecht ist. Aber Vor- und Nachteile gehörten ohne Scheuklappen diskutiert, so Autor. Ökonomen müssten außerdem ihre Modelle überdenken, mit denen sie die Folgen einer Marktöffnung abschätzen. Daran wird gearbeitet. In mehreren Ländern sind Studien angelaufen, in denen die regionalen Folgen der Globalisierung untersucht werden. (András Szigetvari, 22.6.2016)